Der verschwundene Löffel
Nach dem zweiten Weltkrieg erwarben wir von der Industriellenfamilie Fischl in Kärnten deren Hefe- und Spiritusfabrik in Limmersach (einem Vorort von Klagenfurt). Auf Ersuchen der Familie Fischl kauften wir nicht nur das Unternehmen, sondern auch das dazugehörige Herrenhaus inklusive dem gesamten Mobiliar und einer riesigen Kiste voll mit silbernem Tafelbesteck. Da wir zunächst nicht wußten, was wir mit dem Tafelbesteck anfangen sollten, gaben wir es der von uns eingesetzten Leiterin der Fabrik zur Aufbewahrung. Jahre später entschlossen wir uns das Silber zu verkaufen, und baten die Leiterin, uns die Truhe wieder zu übergeben. Seltsamerweise war alles vollzählig vorhanden; seltsam deshalb, weil wir aus dem Inventarverzeichnis wußten, daß von Anfang an ein silberner Löffel gefehlt hatte. Jetzt jedoch war das Service plötzlich wieder vollständig. Eine wahrhaft seltsame Löffelvermehrung!
Die Geschichte ließ mir keine Ruhe, denn ich konnte mir nicht vorstellen, wie ein prachtvoller Löffel aus schwerem Silber, der bereits vor Jahrzehnten verloren gegangen war, den Weg zurückgefunden haben sollte. Meine ziemlich aufwendigen Untersuchungen brachten folgendes überraschende Ergebnis: Erst bei der Rückgabe der Truhe hatte die Leiterin festgestellt, daß ein Löffel fehlte, worauf sie sich entschloß, heimlich und auf ihre eigenen Kosten(!) einen Silberlöffel anfertigen zu lassen. Sie war der Ansicht, daß sie dieses Manko bereits bei der Übernahme der Truhe hätte bemerken müssen. Da ihr der „Fehler“ nicht aufgefallen sei, wollte sie nun den Schaden, der gar nicht von ihr verursacht worden war, wiedergutmachen.
Die Leiterin unserer damaligen Firma in Limmersach war Frau Felicitas Widmar, eine Nachfahrin des Eduard Malburg, eines Bruders unseres Stammvaters Adolf lgnaz, der nach der Adelsverleihung an Adolf Ignaz seinen Namen von Mautner auf Malburg gewechselt hatte.
Felicitas Widmar ist vor vielen Jahren – nachdem sie Limmersach vorbildlich geleitet hatte – in Pension gegangen und im August letzten Jahres verstorben. Ihr einzigartiges Pflichtbewußtsein und ihr geradliniger Charakter bedürfen keiner zusätzlichen Erwähnung. Die Geschichte des silbernen Löffels sagt mehr aus als Worte auszudrücken vermögen.
Verfasst von Georg (IV.) J. E. Mautner Markhof