Maria Anna Kupelwieser, verheiratete Mautner Markhof, verbrachte einen großen Teil ihrer Kindheit und Jugend auf Brioni, bei ihrem Großvater Paul Kupelwieser, der ihr auch den lebenslangen Kosenamen „Pussy Cat“ verpasst hatte. Ihre diesbezüglichen Erinnerungen hat sie im Jänner 1972 in Schruns zu Papier gebracht.
Jugend und Kindheit
Vor allem muss ich dem lieben Gott danken, dass er mir so ein reiches Leben geschenkt hat – ausgefüllt mit so vielen schönen Ereignissen – einer schönen Jugend und Kindheit auf einer paradiesischen Insel.
Geboren wurde ich in der Hinterbrühl in einem kleinen Sommerhaus am 18. August, Kaisers Geburtstag, worauf ich als Kind sehr stolz war, dachte ich doch, dass die Kaiserfeste auch ein bisschen für mich waren. Heute erinnere ich mich noch an das liebe, leicht schmunzelnde Gesicht meines lieben Großvaters, als ich ihm am Morgen des 18. August mitteilte, dass mein Geburtstag heuer wahrscheinlich verschoben wäre, da auch der Kaiser wegen schlechten Wetters, seinen verschoben hätte. Bei mir war allerdings ein anderer Grund: meine Mutter war verreist und kam erst einen Tag später zurück.
Meine ersten bewussten Erinnerungen an Brioni waren das Erwachen am Morgen im Hause meiner Großeltern, in dem wir anfangs wohnten, bis das alte Kastell so weit bewohnbar war. Die Sonne schien in das Zimmer, die Bienen summten und die Vogerl zwitscherten und das starke südliche Licht erfüllte den ganzen Raum. Aus dem Fenster blickend sah man auf einen üppigen Gemüse- und Blumengarten hinunter und ein herrliches Gefühl der Ruhe und friedlicher Schönheit durchströmte einen. Ich konnte dies natürlich noch nicht realisieren – es war nur alles so herrlich und ein unendliches Wohlempfinden durchströmte einen.
Diese Liebe zu der Insel hab` ich mein ganzes Leben hindurch bewahrt und es ist auch heute noch in mir.
Mein Großvater hatte aus einem mit niederem, wilden Gestrüpp, von Malaria versuchten Eiland ein Paradies geschaffen. Mit einem Forstexperten Zufar wurde die Insel systematisch gerodet und aufgeforstet. Ein persönlicher Freund, Prof. Robert Koch, wurde berufen, um die Malaria zu bekämpfen. Alle Tümpel wurden trockengelegt, die Menschen auf der Insel genau auf Malaria untersucht und mit Chinin Behandelt (damals kannte man noch nichts Anderes), und vor allem nach Wasser gesucht, da man bis dahin nur von Zisternenwasser lebte und dieses immer abgekocht werden musste, um es als trinkbar zu verwenden. Es gab weder eine Quelle noch einen Brunnen auf Brioni Grande (die größte der Inselgruppe). Das Wasser aus den Zisternen reichte nicht und so musste immer ein Schiff (die Brioni 2) das Wasser vom Festland bringen. Da entschloss sich mein Großvater, die Wasserrechte einer Quelle auf dem gegenüberliegenden Festland zu kaufen und eine Wasserleitung von dort über den Kanal von Fasana am Meeresgrund zu verlegen. Ebenso baute er ein Maschinenhaus, um elektrischen Strom selber zu erzeugen, aber dies war erst viel später.
Die Wasserleitung gelang – nun war genug Wasser auf der Insel und man konnte mit den Pflanzungen beginnen. Die Insel verwandelte sich in einen herrlichen Park, Weingärten und Felder wurden angelegt, Kühe wurden eingestellt, die Malaria war bezwungen. Allerdings mussten wir jede Woche zur Kontrolle zu unserem Arzt gehen, der in einem Bootshaus am Hafen wohnte, und die Stiegen hinauf waren immer mit leiser Furcht begleitet vor dem lästigen kleinen Schnitt in die Fingerspitze, aus der dann ein Tropfen Blut auf eine Glasplatte tropfte und unter ein Mikroskop geschoben wurde. Gott sei Dank blieben wir von dieser Krankheit verschont, aber mein Vater und Großvater wurden sehr stark von ihr befallen. Besonders mein Großvater bekam die „Tertiana“ (die ärgste Form) und ist beinahe daran gestorben. – Wir Kinder kamen erst auf die Insel, als man die Krankheit bereits unter Kontrolle hatte.
Die Pflanzungen gediehen, dank des herrlichen Klimas, sehr üppig und rasch und auf den gerodeten und mit Gras bewachsenen Wiesen und Waldrändern blühten ganze Polster von Veilchen und Thymian. Der Lorbeer blühte und duftete, und wenn im Mai der herrliche gelbe Ginster die felsigen Hügel der Südseite bedeckte, konnte man, wenn man per Schiff von Venedig kam, die Insel bereits riechen, bevor man sie sah. – Später dann, im Juli, blühte die Myrrhe wie große weiße Hochzeitsbouquets. Zu jeder Jahreszeit blühte und duftete etwas Anderes zur großen Freude von uns allen.
Wie oft war ich als Kind mit meinem Großvater draußen auf den Planzungen! Er hatte damals als Arbeitskräfte Strafgefangene aus Capo d’Istria, meist einheimische Bauern aus dem Inneren Istriens, wo noch recht wilde Sitten herrschten und vor allem noch die Blutrache bestand.
Die meisten dieser Sträflinge hatten so ein Delikt begangen und waren eigentlich sehr fleißige und ordentliche Leute. Wir waren als Kinder auch sehr befreundet mit ihnen und viele bleiben nach Abbüßung ihrer Gefangenenzeit bei uns in Brioni. Ich sehe noch meinen Großvater, der immer die Gewohnheit hatte, wenn er etwas erklärte, den Betreffenden unter dem Arm zu fassen, dies auch mit einem Sträfling machend, der es besonders gut verstand, was mein Großvater wollte. Später hat er es auch mit dem König von Sachsen gemacht, als er ihm die römischen Ausgrabungen auf der Insel erklärte, was ihm aber von den Hofschanzen sehr übel genommen wurde.
Als Landeskonservator von Istrien war Professor Anton Gnirs sehr interessiert an der Insel, er leitete die Ausgrabungen und fand ein reichen Feld vor. In der Bucht von Val Catena kam eine große römische Siedlung zutage mit Villen, Hafenanlagen, Zisternen und einem römischen Dampfbad; letzteres war besonders interessant, da die ganze Anlage sehr gut erhalten war. Unter dem Bad befand sich ein zugemauerter Gang, an dessen Ende man ein Skelett fand, neben einer Amphore und einer kleinen Öllampe. Ich war gerade dabei als Kind, als Prof. Gnirs diesen Gang fand und hineinkroch und den grausigen Fund machte. Er nahm an, dass es sich vielleicht um einen römischen König handelte, der laut Überlieferung auf seinem Weg von Apaltao nach Ancona spurlos verschwunden und wahrscheinlich von seinem Gegner umgebracht oder auf diesem Wege aus der Welt geschafft worden war.
Auf der Westseite der Insel befand sich noch die recht gut erhaltene Ruine einer alten Basilika und Salinen, die im Herbst immer bei Ebbe eine wunderbar rote Farbe hatten.
Wir selber wohnten auf der Hafenseite im alten Kastell, dessen Turm über tausend Jahre alt war und im obersten Raum acht Fenster hatte. Die Mauern waren 1 m breit und aus Stein, nur im Anbau, der etwas jünger war (1290), waren die Mauern wohl auch dick, aber doch schon mit Mörtel vermischt und zum Teil auch innen hohl – von den Ratten ausgehöhlt, die auch unsere Mitbewohner waren, was nicht immer sehr gemütlich war. Besonders in den Mansarden kam es schon vor, dass in der Nacht eine Ratte über das Bett lief oder an der großen Zehe zu nagen versuchte. – In den unteren Räumen war es besser, da hielten die Hunde sie in Schach. Der Kampf gegen diese äußerst gescheiten, aber lästigen Tiere war mindestens ebenso schwierig, wie jener gegen die Moskitos, da eine Ratte niemals zweimal in einer Falle gefangen wurde. Man musste immer neue Methoden erfinden, um ihrer Herr zu werden. Meine Mutter hatte einen Scotchterrier, Brossey mit Namen, der ein sehr erfolgreicher Rattenfänger war und so trauten sie sich nicht mehr in das Haus und zogen sich in die hohlen Mauern zurück. Nur wenn es abends ganz still im Hause war und plötzlich eine Glocke läutete, ging ein wahrer Hexentanz in den Mauern los – da wusste man, dass sie noch da waren.
Nun, so verging unsere Kindheit, in sonnigen Tagen in der herrlichen Natur, umgeben von vielen Tieren und lieben Menschen. Zur Schule ging ich nicht, sondern lernte zu Hause mit unserem Lehrer aus der Volksschule, die mein Großvater für die Kinder der Angestellten geschaffen hatte. Überhaupt waren wir in Brioni ein kleines autonomes Reich geworden. Wir hatten die eigene Lichtanlage, Werkstätten, Bäckerei, Wäscherei und auch ein kleines Hotel mit 10 Zimmern, das aber sehr bald vergrößert werden musste, da nicht nur die Freunde der Familie, sondern auch viele andere kommen wollten. – So wuchs Brioni langsam heran, aus einem schönen, ruhigen Landsitz wurde ein blühender Kurort, der anfangs mehr im Winter frequentiert wurde als Riviera der alten Monarchie, daneben der österreichische Kriegshafen Pola, der ja auch ein Anziehungspunkt für viele war – besonders für Mütter mit Töchtern. Auch der österreichische Hof kam gerne und oft. – Erzherzogin Maria Josefa (die Mutter des späteren Kaiser Karl) kam jedes Frühjahr auf ein bis zwei Monate, bewohnte eine Suite im Hotel Neptun I, hatte einen großen Collie mit und manchmal auch die Söhne (Erzherzog Karl Franz Joseph und Erzherzog Max). Sie war eine sehr liebe und bescheidene Frau, hasste es, wenn der Marinekommandant von Pola ihr einen offiziellen Besuch machte und war am liebsten irgendwo draußen auf der Insel und malte. – Erzherzog Franz Ferdinand mit Familie besuchte auch Brioni, wollte die Insel sofort selber besitzen und quälte meinen armen Großvater unentwegt damit. Immer kamen Abgesandte mit neuen Vorschlägen und sehr kümmerlichen Angeboten, aber mein Großvater wollte die Insel unter gar keinen Umständen hergeben, wäre der Preis auch noch so hoch gewesen. Als nun all dies keinen Erfolg hatte, wurden andere Methoden angewendet: für jedes kleinste Bauwerk- und war es nur ein kleiner Schuppen – musste eine Erlaubnis des Marineamtes in Pola eingeholt werden und war immer mit großen Schwierigkeiten verbunden. Da die Insel vor dem Kriegshafen lag, war es dadurch eine gute Ausrede.
Fr. F., wie er kurz bei uns genannt wurde, kam noch einmal nach Brioni, empfing dort mit riesigem Flottengepränge seinen sehr guten Freund, Kaiser Wilhelm II. Bei dem großen Empfang in Brioni strafte er meinen Großvater dadurch, dass er ihn nicht dem Kaiser vorstellte, sondern nur Carl Hagenbeck, der gerade damals in Brioni einen Tiergarten einrichtete. – Das war das letzte Mal, dass er in Brioni weilte, und für uns war es eine große Erleichterung, als er nicht mehr kam – nur für uns Kinder war es immer lustig, da wir mit seinen Kindern immer fröhliche Spiele am Strand hatten.
Die Zeit verging, wir wuchsen langsam heran, und es war Juni 1914, als ich mit meiner Mutter nach Venedig fahren durfte. Ein sehr aufregender Moment, war doch Venedig wirklich wie ein Märchen und ist es auch heute noch. Wir sind den ganzen Tag kunstgewandert, besuchten alle Kirchen und Museen, da meine Mutter sehr kunstsinnig war und einem schon früh die Ehrfurcht vor der Kunst beibrachte.
Abends aßen wir in einem kleinen Restaurant, als Leute am Nebentisch ein Extrablatt sehr aufgeregt lasen. Wir erkundigten uns, was es wohl sei und erfuhren von dem schauerlichen Attentat in Sarajevo. Nun brachen wir gleich unsere Zelte in Venedig ab und fuhren mit dem nächsten Schiff wieder nach Brioni zurück. Zwei Tage später passierte der große Trauerkondukt den Kanal von Fažana. Auf dem ersten großen Kriegsschiff „Viribus Unitis“ der Sarg des Erzherzogs, auf dem zweiten Schiff der Sarg der Herzogin von Hohenberg. Die Schiffe fuhren ganz langsam mit halber Kraft, die Flaggen auf Halbmast und die übrige Flotte, ein Schiff nach dem anderen, fuhr ebenfalls ganz langsam an uns vorüber. Es war sehr traurig und man fühlte, dass es wohl ein schauriges Ereignis war und hatte im Unterbewusstsein schon ein sehr ungutes Gefühl, was wohl noch daraus entstehen würde. Wir Kinder allerdings hatten nur ein tiefes Mitgefühl für die Kinder, die nun plötzlich allein in der Welt ohne Eltern waren.
Im Juli fuhren wir wie jedes Jahr nach Kärnten, wo meine Großeltern einen Besitz am Wörthersee hatten und wir immer die ganz heißen Sommermonate verbrachten. Unsere Reise dorthin war meist sehr komisch. Meine Mutter fuhr entweder voraus oder kam einen Tag später, da ihr diese Unternehmung immer etwas lästig war. Dafür kam meine liebste Großmutter Kupelwieser und unsere gute Missi (eine liebe alte Engländerin, die uns von der Geburt an betreute, bis ich heiratete) und unsere gesamte Menagerie: Hund, Katze, Schildkröte, Laubfrosch, und vor allem der zahme Kanarienvogel. Esel und Schaf mussten wir zu unserem Leidwesen zurücklassen.
Wir starteten um 8 Uhr Früh mit dem langsamsten Verkehrsschiff, der „Istria“ von der Insel und fuhren die ganze Küste entlang bis Triest, wo wir um 7 Uhr abends ankamen. War das Wetter schön, so war es ja recht lustig, jeden Hafen anzufahren, immer das Getriebe der Bevölkerung zu sehen – war es doch das Tagesereignis. Auch die Post kam auf diesem Wege. Aber wehe, wenn der Scirocco wehte und das Meer grau und böse war! Ich habe mein ganzes Leben lang immer dem Hl. Ulrich geopfert, wenn es nur ein bisschen bewegt war. – Aber so viele Stunden waren schon etwas Grauenhaftes und es ist mir noch in schauderhaftester Erinnerung. Wenn man dann endlich wieder festes Land unter den Füßen hatte, war es noch lange nicht gut, immer noch schwankte alles unter einem. Die Gesichtsfarbe war noch sehr grün und ganz langsam kamen die Lebensgeister wieder.
Viel später, als ich schon als erwachsener Mensch einmal aus Mailand kommend im November in Venedig das Schiff bestieg und wir den Hafen noch nicht verlassen hatten, musste ich blitzartig die Kabine verlassen, um in die Luft zu kommen. Einige zusammengerollte Schiffstaue waren mein Lager. Der Wind blies, es regnete, mein Mantel war in der Kabine geblieben und ich lag als armes Häuflein Unglück da und wünschte mir nur eine Mine herbei, damit das Elend ein ende hätte. Die Mine kam nicht, aber Gott sei Dank wurde das herrliche Seekrankheitsmittel „Mothersill“ erfunden, und von nun an wurde ich seefest, wie es einem am Meer aufgewachsenen Kind zusteht.
In Triest übernachteten wir dann in einem nicht übermäßig schönen Hotel. Ich schlief zwischen Missi und Großmama, und am anderen Tag ging die Reise weiter per Bahn durch den Karawankentunnel, der für mich immer den Prickel hatte, dass es ganz finster im Coupé wurde und, wenn man herauskam, der See mit der kleinen Insel vor einem lag. Am späten Nachmittag langte man endlich in Pörtschach an, wo uns meistens meine Mutter empfing.
In späteren Zeiten, als die Menagerie nur mehr auf Hund und Katze beschränkt war, fuhren wir im Auto über den Loiblpass. Ich musste neben dem Chauffeur sitzen (unser guter, alter Giovanni, ein Bauer aus Istrien – ein Analphabet aber ein sehr guter Fahrer und verlässlicher Mann) und in den Kurven des Loiblpasses immer eine Pumpe bedienen, da die Steigung so groß war, dass der Druck nicht ausreichte. Wehe, wenn ich es einmal vergaß – sofort bekam ich einen heftigen Fußtritt von Giovanni. Mir sind die gelben Schuhe und Gamaschen noch in unvergesslicher Erinnerung. Auch diese Reisen machten wir immer nur mit Missi und Giovanni allein, da mit unserem vielen Gepäck ja gar kein Platz für andere Personen gewesen wäre.
Meine Eltern waren übrigens schon sehr früh große Automobilisten. Es muss um 1904 gewesen sein, dass sie mit einem Auto bis Rom fuhren. Sie brauchten viele Tage dazu, da ja die Straßenverhältnisse noch sehr rustikal waren und ein Pneumatikdefekt immer einen Aufenthalt von einigen Stunden verursachte, musste doch alles abmontiert, gepickt und wieder auf die Felgen gebracht und dann erst auf das Auto montiert werden. Und in der Früh, ehe man weiterfuhr, wurde ein kleines Feuer unter dem Auto angezündet, damit das Öl wieder weich und flüssig wurde. Aber angekommen sind sie und waren sehr stolz auf die sportliche Leistung.
Einen Sommer bleiben wir aber in Brioni. Meine Missi war in Schottland auf Urlaub. Ich muss damals fünf Jahre alt gewesen sein und war der Obhut der Kinderfrau meiner jüngeren Schwester anvertraut. Nun herrschte aber zwischen ihr und mir kein sehr harmonisches Verhältnis. Ich sehe sie noch vor mir: dick, mit roten Wangen und sehr cholerisch. In der Frühe musste ich mich zu ihr begeben, um frisiert zu werden, was schon äußerst schmerzhaft war, da sie eine sehr kräftige Hand hatte und ihren Unmut immer an meinen Haaren ausließ. Kaum war dies erledigt, verschwand ich so schnell ich konnte und war bis zu Mittag mir selber überlassen, was ich sehr genoss. – Mein liebster Aufenthaltsort war der Kuhstall und die dazugehörige Käserei. Dort trieb ich mich viel herum, besonders in den Nachmittagsstunden zur Milchausgabe. Die Käserin war meine ganz besondere Freundin, fühlte ich doch als Kind instinktiv, dass Menschen, die mit Tieren nett waren, auch mit Kindern lieb waren. – Ich durfte immer die Milch in Flaschen füllen, musste aber auf einem Sessel stehen, da ich sonst nicht in den Milchbottich reichte. – vormittags war ich teils im Wald, aber am liebsten auf den Klippen, wo man so viele interessante Dinge finden konnte. Kleine Crevetten in den Salzlacken oder, wenn man Steine aufhob, wurlten darunter die seltsamsten Tiere. Man lernte Krabben zu fangen ohne von ihnen gezwickt zu werden oder Muscheln aus den Felsen klopfen. Dabei bekamen auch manchmal die Finger etwas ab. Aber das herrlichste war doch das Radl. Ein sehr lieber großer Bub hat es mir beigebracht und mein Glück war groß. Nun konnte ich lange nicht allein auf- und absteigen, letzteres lernte ich dadurch, dass ich einem alten Herrn, der taub war und mein verzweifeltes Glockenläuten nicht hörte, zwischen die Füße fuhr und den Armen zu Sutz brachte, während ich in höchster Not vom Radl absprang und so konnte ich wenigstens dies. Aber der arme alte Herr tat mir schrecklich leid und ich muss mich wahrscheinlich sehr zerknirscht gezeigt haben, dass er nicht zu böse war und mir sogar wieder auf das Radl half. Meine Knie hatten diesen Sommer schwer zu leiden. Immer wieder waren sie zu heftig in Berührung gekommen mit dem scharfen Kalkschotter. Die Stiege in das Doktorhaus musste ich oft hinauflaufen, um das Blut zu stillen – aber das war mir ganz egal, das Radl war mir das höchste Vergnügen.
Natürlich blieb ich immer viel zu lang im Wasser, aber meine Eltern waren damals noch sehr jung und mit so vielen Dingen beschäftigt, dass sie dies alles nicht bemerkten.
Ein junger Neffe meines Vaters, der den Sommer in Brioni verbrachte und ein angehender Cellist war, brachte mir die ersten Begriffe des Klavierspielens bei. Ich hörte ihm immer so gerne zu, wenn er übte und so lehrte er mich ein kleines Stück am Klavier, das er auf dem Cello begleitete und ich war daraufhin für alles, was Musik bedeutete, vergiftet fürs Leben. Ich lernte Noten lesen früher als die Buchstaben und versuchte schon damals, Melodien am Klavier zu finden. Mein Vater war unbeschreiblich musikalisch, konnte alles, was er hörte, sofort auf dem Klavier nachspielen, saß stundenlang am Klavier und fantasierte und oft saß ich auf, seinen Knien und er nahm meine rechte Hand, spielte damit eine Melodie und begleitete sie mit der anderen Hand. Ich fand das natürlich herrlich und hockte immer neben ihm, wenn er spielte. – Das war aber dann schon etwas später.
Um noch zu diesem Sommer, dem herrlichsten von allen zurückzukehren – ich genoss ihn unendlich. Aber leider war das viele im Wasser und in der Sonne sein für mein doch noch sehr junges Alter zu viel und eines Tages wachte ich in der Früh mit Kopfschmerzen und sehr lästigen Bauchschmerzen auf. Paula, die „Kinderfrau“ verständigte meine Mutter davon, was zur Folge hatte, dass unser lieber und guter Doktor Lenz kam, ziemlich hohes Fieber konstatierte und mir Bettruhe und den üblichen Esslöffel Rizinusöl verordnete. Beides find ich äußerst lästig, aber mit 5 – 6 Jahren sind halt die Erwachsenen so viel größer und stärker, dass man sich leider fügen musste. Auch war mir ziemlich elend zumute und so verbrachte ich einige Zeit im Bett, bekam außer Schleimsuppe nichts zu essen und als ich nach einer Woche wieder aufstehen durfte, war ich etwas schwach und meine herrliche Freiheit wurde beträchtlich eingeschränkt. Nur in die Milchkammer durfte ich gehen, zu meiner lieben Freundin Pepi und weiter die Milch ausschenken. Bald darauf kam Missi zurück vom Urlaub, war entsetzt über mein Aussehen und weinte bittere Tränen, dass man während ihrer Abwesenheit ihr armes Kind so vernachlässigt hatte und war bitterböse auf die Kinderfrau, die nicht aufgepasst hatte.
Nun, der Sommer war ohnehin vorüber und Missis energische Stimme hielt wieder Ordnung. Ich konnte mich ja nicht wirklich beklagen wegen zu stark eingeschränkter Freiheit. Es kam nur wieder eine Ordnung in mein Leben und das Gefühl des Geborgenseins war auch nicht so schlecht.
Zu Weihnachten hatten wir immer viel Spaß. Nicht nur, dass einmal unter dem Christbaum ein junger Esel stand (natürlich auch zu unserer großen Freude gleich seine Visitenkarte abgab auf den roten Veloursteppich), sondern es war auch ein großes Lampl für meine Schwester da und die Freude war enorm. Natürlich musste am anderen Morgen der Esel als Reittier ausprobiert werden. Mein Vater legte einen Zaum an, eine Decke auf den Rücken und nun sollte es losgehen. – Bis dahin hatte ich immer nur einen guten alten Herrn geritten, der alles tat, was man wollte, aber Gigi – so hieß der Esel – wusste (oder wollte es nicht wissen) nicht, was man von ihm wollte. Alles gute Zureden half nichts, sobald ich oben saß, wollte er keinen Schritt weitergehen und wir fanden die Situation ziemlich aussichtslos, als er plötzlich sich eines anderen besann, heftig mit den Hinterfüßen ausfetzte, die Zügel aus der Hand meines Vaters riss, mit wilden Trompetenstößen Richtung Stall davonstürmte und ich in hohem Bogen durch die Luft wirbelte und auf einem Schotterhaufen landete. Mein Schlüsselbein war etwas lädiert davon, da ich den Arm nicht heben konnte, aber damals gab es weder Röntgen noch Gips, und gar nicht in Pola, und so wurde der Arm in eine Schlinge getan und das Leben ging weiter. Gigi durfte ich bis auf weiteres nicht reiten. Er wurde in den Wagen gespannt dachte aber nicht daran, auch nur einen Schritt zu gehen. Nur ein junger Cousin, der immer über die Weihnachtsfeiertage zu uns kam, brachte ihn mit Gewalt dazu. Wir fuhren wie ein Rennwagen dahin und schmissen natürlich bei der ersten Kurve um, was wir aber sehr lustig fanden.
Überhaupt waren die Weihnachtsfeiertage ein Born aller Gaunereien, deren ein Bub fähig war und bei denen ich natürlich sehr begeistert mittat. Wie mein lieber Großvater immer sagte: „Es gibt bestimmt keine Dummheit, die nicht im Hirnkasterl eines kleinen Buben ausgeheckt wird“. Buben haben auch bedeutend mehr Fantasie als Mädel. Nie hätte ich mich allein getraut, das heilige Dreirad meiner lieben Großmutter zu berühren. Aber mit Hubsi fuhren wir kreuz und quer und rundumadum auf dem heiligen Rad, bis wir erwischt wurden! Aber sofort war wieder ein neuer Schabernack erfunden. Von meinen Eltern war meine Mutter die strengere. Sie war zwar in unserer früheren Kindheit nicht viel da – sie war ein echtes Stadtkind, sehr kunst- und literarisch interessiert und verbrachte viele Monate des Jahres in Wien und ließ meinen Vater viel zu viel allein. Er war ein riesig fröhlicher Mensch, liebte uns Kinder sehr und verbrachte den Abend viele Stunden bei uns im Kinderzimmer, wo er uns die schönsten selbsterfundenen Geschichten erzählte – meist mit langen, spannenden Fortsetzungen und musikalisch untermalt.
Seine große Passion war das Segeln und, da wir keinen Bruder hatten, durfte ich die Stelle des 3. Matrosen auf dem Schiff bekleiden. Winter und Sommer fuhren wir hinaus. Oft musste ich das Steuerruder bei Sturm halten, mit beiden Händen es fest umklammern und die Füße gegen die Wand stemmen. Aber mein Vater bestand darauf, dass ich alles lernen müsste. Einmal traf mich beim Kreuzen das Großsegel und ich fand mich – zum Glück nicht im Wasser- aber auf dem Boden des Schiffes wieder! Trotz alledem war ich sehr stolz, dass ich mitfahren durfte und jegliche Seekrankheit, die mich schwer heimsuchte, hätte mich nicht abgehalten davon. Später durfte ich dann eine kleine eigene Jolle segeln, aber nur innerhalb des Hafens, aber auch das war sehr schön.
Die schönsten Segelerinnerungen waren immer die großen Regatten im Frühsommer und einmal haben wir auch den Kaiserpreis gewonnen. – Wunderbar war es aber auch, an einem sonnigen Tag nur mit leichtem Wind von achtern (das ist Rückenwind) und einem Schleppnetz (Perangel genannt) zu segeln. Was da alles zum Vorschein kam in dem Netzt war sehr spannend und unterschiedlich. Von den schönsten Seesternen und Muscheln bis zu einem alten Schuh konnte man alles finden.
Sehr interessante Tiefseeforschungen wurden aber öfters im Jahr von der biologischen Station in Rovigno, einem kleinen Ort etwas nördlich von Brioni, gemacht. Der Leiter war Professor Cori, der Vater des späteren Nobelpreisträgers. Er kam mit seiner kleinen Motorjacht oft in unsere Gewässer und wir fuhren oft (ich durfte auch mitkommen) viele Tage rund um die Insel, wo er aus den verschiedensten Tiefen Wassertropfen herausholte und unter einem Mikroskop betrachtete. Es war erstaunlich, wie verschieden die kleinen Lebewesen aussahen, die sich in diesen Wassertropfen tummelten. Auch hatte er einen Kasten mit einem Glasboden für die seichten Gewässer, wo man wieder die größeren Tiere am Meeresboden beobachten konnte. Man lerne dadurch sehr viel von den Eigenschaften der verschiedenen Tiere und Pflanzen kennen und versuchte dann auch auf eigene Faust aus den Klippen, über und unter Wasser zu forschen und zu beobachten.
Ich hatte auch das Glück, einen sehr netten Lehrer zu haben, der mich acht Jahre lang unterrichtete und mich nicht nur Lesen und Schreiben gelehrt hat, sondern den Naturgeschichteunterricht immer im Freien abhielt, mit die Tiere und Pflanzen original erklärte, so dass es wirklich interessant war. Er trieb auch richtige Leichtathletik mit mir: Speerwerfen, Diskuswerfen, lange Dauerläufe und richtiges Turnen auf den Geräten. Ende des Schuljahres musste ich immer eine Prüfung in Pola in der Marineschule ablegen, vor der ich grauenhafte Angst hatte. Zitternd fuhr ich in der Früh mit dem Dampfer nach Pola, jegliche Jahreszahl war mit entfallen, eine gähnende Leere war in meinem Hirn, nur Angst und Aufregung war das einzige.
In Pola in dem großen Schulgebäude angekommen, wurde ich in ein leicht verdunkeltes Klassenzimmer geführt – es war ja schon Sommer und ziemlich warm – eine strenge Lehrerin kam herein, begleitet vom Direktor und dem Katecheten und nun begann das „Verhör“. Merkwürdigerweise stellten sich die verlorenen Jahreszahlen wieder ein, ich wusste, wann die Schlacht von Salamis stattgefunden hatte und berichtete von den heldenhaften Kämpfen an den Thermopylen, sodass man bald dankend abwinkte und auf andere Themen überging. Der gute Katechet sagte mir etwas ein, als ich über die 10 Gebote ins Stocken geriet und ich erhöhte die Zahl der Apostel auf 1200, als er mir mit den Fingern die Zahl zu zeigen versuchte! Aber zum Schluss kam ich doch durch. Das Zeugnis war „mittelfein-türkisch“, aber ich war durch und sehr erleichtert und ein freier Sommer lag vor mir.
Nur die Klavierstunden gingen weiter, die ich sehr gerne hatte, da meine gute Klavierlehrerin aus Pola mit dem schönen Namen „Wanda de Posarelli“ sehr großzügig war, mir zwar eine richtige Handhaltung beibrachte, aber gar nicht merkte, dass ich nie Fingerübungen machte oder meinen Czerny übte, der mich sehr langweilte. Ich versuchte mich an alle Noten, die ich erwischen konnte, lerne sehr bald, gut Noten zu lesen und hatte viel Spaß damit. Dadurch schwindelte ich mich in den Klavierstunden so durch und drang gleich auf vierhändig spielen, sodass sie nicht immer merkte, dass ich eigentlich gar nicht geübt hatte. Aber, wie gesagt, sie war sehr großzügig.
Viel später, als ich dann in Wien zu einer herrlichen Lehrerin kam, die noch eine Schülerin von Clara Schumann war, lernte ich erst den Begriff des Klavierübens kennen. Als ich ihr das erste Mal vorspielte, hörte sie mich geduldig an, schüttelte den Kopf und meinte: „sehr musikalisch begabt, aber grauenhaft schlampert!“. Von da ab habe ich dann ordentlich zu üben begonnen und hatte viel Freude daran.
Aber in einem Sommer hatte ich plötzlich den Wahn, auch Geige zu spielen, was mir nur unter der Bedingung erlaubt wurde, dass ich keinesfalls das Klavierspielen aufgeben dürfte, wofür ich noch heute meiner Mutter dankbar bin. Ich brachte es auf der Geige bis zum Sonatenspielen, aber da ich auch da zum Üben zu bequem war, gab ich es nach einigen Jahren wieder auf, obwohl ich auch daran viel Spaß und Freude hatte.
Ich spielte auch Duos mit einem Spielkameraden, der dann viel später mein Ehemann wurde – nicht zum Vergnügen der anderen, aber uns machte es viel Spaß.
Wie jedes Jahr fuhren wir wieder zuerst auf eine Woche nach Böckstein, da meine Mutter dort ihre beiden Cousinen treffen wollte und die Höhenluft brauchte. Wir fanden es dort furchtbar öde, es regnete fast den ganzen Tag, das Wetter war kalt. Es war wohl mein Cousin Hubsi auch dort und so dachten wir nur daran, was man an Schabernack anstellen könnte. Er holte ein Luftgewehr und im zweiten Stock gab es Balkons mit Holzgeländern, die kleine herzförmige Ausschnitte hatten. Dort oben lagen wir nun mit dem Gewehr auf der Lauer und wenn unten jemand vorüberging, schossen wir auf den Allerwertesten des Betreffenden. Nun, dieses Spiel wurde uns (verständlicherweise) bald eingestellt. Wir waren aber gar nicht erfreut darüber und sannen auf neue Untaten. So montierten wir im Gasthausgarten eine große Tafel ab, auf der eine große Hand zu den Toiletten wies und hängten sie an die Türe eines älteren Fräuleins. Auch dies fand gar keinen Anklang. Dann kam ich auf die Idee, im Gastzimmer, wo ein elektrisches Klavier stand, die Rhapsodie von Liszt einzulegen und mich dann an das Klavier zu setzten und so zu tu, als spielte ich das persönlich. Es war herrlich, so als Wunderkind bewundert zu werden, da es ja die Menschen, die vorüberkamen nicht bemerkten, dass das Klavier auch ohne mich spielen konnte. Lange konnte ich es aber nicht durchhalten und musste so laut herauslachen, dass der Schwindel aufkam.
Dann kam eines Tages die Kriegserklärung an Serbien und wir brachen schleunigst unsere Zelte ab und fuhren nach Pörtschach zurück, wo der größere Teil der Familie war, vor allem meine geliebten Großeltern. – Papa war schon mit seinem Auto freiwillig zum Automobilcorps eingerückt. Wir Kinder fanden diese Stimmung recht aufregend. Man stopfte pausenlos Zigaretten, um sie dann bei den durchfahrenden Militärzügen zu verteilen. Oder man zupfte Charpie aus alten Leintüchern (statt Watte). In der Zwischenzeit wurde einiges beschlossen, was mit uns geschehen sollte. Brioni war ja durch die Nähe des Kriegshafens Pola die vorderste Front und wahrscheinlich würden alle Zivilisten die Insel verlassen müssen. Wir blieben daher viel länger in Pörtschach und fuhren erst Ende Oktober von dort weg, aber leider nicht nach Brioni, sondern Richtung Wien. Mama hatte eine möblierte Wohnung gemietet (witziger Weise gehörte sie Eugen d’Albert, mit seinem Klavier, auf dem ich öfters gespielt habe, ein herrlicher Bechstein. Meine Schwester Mausi und ich kamen nach Pressbaum ins Sacré Coeur.
Das war wohl für mich die traurigste Zeit meines Lebens, nach all der Freiheit, Sonne und herrlichen Natur! Eingesperrt in ein klösterliches Leben, das damals ganz besonders streng geführt wurde, kam ich mir vor wie in einem Gefängnis. Man durfte nie ein Wort reden. In der Freizeit wurden allerdings lustige Spiele gespielt, aber da ich separat Klavier- und Geigenstunden bekam, wurde das immer von meiner Freizeit abgezwickt. Der Klassenunterricht war mir aber ganz lustig, ich musste mich nur daran gewöhnen – aber Gefängnis blieb es trotzdem, und das Heimweh quälte mich Tag und Nacht. Ich war eigentlich immer verweint, besonders in der Nacht.
Das graue, nebelige Novemberwetter, immer schrecklich kalt, sehr wenig geheizt, auch das Wasser in meinem kleinen Krug, der mitten im Waschbecken auf dem Nachtkasten stand, war eisig. Nicht nur das, das raue Klima war auch meiner Gesundheit wenig bekömmlich. Ich war immer verkühlt und schreckliche Anginen wechselten einander ab und ich verbrachte viele Tage in der Krankenstation, meist ganz allein. In einem Kasten fand ich die Gesamtausgabe der „Bibliotheque Rose“ und so verbrachte ich zwischen Fieber und Halsweh die Tage lesend und lernte wenigstens Französisch dabei. Mit meiner Klavierlehrerin hatte ich gleich im Anfang eine heftige Auseinandersetzung, da sie mir immer nur kleine Salonstückerl aufgegeben hat und ich Schubert oder Schumann spielen wollte. Ich machte einfach passive Resistenz und habe auch gewonnen – durfte ein kleines Allegretto von Schubert lernen, das ich dann sogar der Oberin vorspielen durfte. – Das waren so kleine Episoden des Pensionatlebens.
Unser lieber Großvater besuchte uns immer, wenn er in Wien war. Er durfte mit meiner Großmutter nach Brioni zurückkehren, sonst war nur marine und etwas Artillerie auf der Insel. Die Hotels waren von der marine beschlagnahmt und der Hafen für die Unterseeboote bestimmt. Meine arme Großmutter war damals sehr schwer krank und wurde von unserer lieben Missi gepflegt.
Weihnachten verbrachten wir in Wien und dann mussten wir wieder zurück in unser „Gefangenenhaus“. Meine Schwester Mausi war zum Unterschied von mir gar nicht traurig. Ihr war es lustig, sie war schlimm, trieb tausend Schabernacks, hatte jeden Sonntag ein „as bien“ als Wochennote, die sie immer strahlend entgegennahm, als wäre es die höchste Auszeichnung. Nun, sie hatte den gescheiteren Teil erwählt und war daher nicht unglücklich. Dann kam aber doch etwas Arges für die Arme. Sie erkrankte an Scharlach und musste das Pensionat verlassen und in ein Kinderspital gebracht werden, mit meiner Mutter zusammen, die bei ihr bleiben durfte. Ich bekam gleichzeitig auch hohes Fieber und Angina und wurde zu meiner lieben Tante Mausi verfrachtet. Dort musste ich dann sechs Wochen Inkubationszeit verbringen, da man fürchtete, dass bei mir auch der Scharlach ausbrechen könnte.
Meine arme Großmutter war sehr krank, sie konnte kaum mehr herumgehen. Ihre einzige Freude war es, manchmal mit dem Pferdewagen etwas auf der Insel herumzufahren und meine kleine Schwester durfte auch mit dabei sein. Aber dann, als der Herbst kam, verschlechterte sich ihr Zustand zusehends, sie konnte kaum mehr aus dem Bett steigen. Nur, wenn mein Großvater von einer Reise zurückkam, versuchte sie immer, ihm entgegenzugehen und weinte vor Freude, was unbeschreiblich rührend war. – Im November wurde sie von ihren Leiden erlöst und lag so ruhig und friedlich in ihrem Sarg, als ob sie schliefe. Für mich war es die erste Begegnung mit dem Tod. Mein lieber Großvater war sehr, sehr traurig und konnte sich lange nicht trösten über den Verlust. Ich hatte damals die Aufgabe, ihm vorzulesen, da er mit den Augen Schwierigkeiten hatte. Ich erinnere mich noch an lange politische Artikel, die ihn sehr interessierten, für mich aber totale spanische Dörfer waren. Ich versuchte oft, ganze Absätze zu überspringen, aber leider kam ich damit nicht durch, mein Großvater bemerkte meist den Schwindel sehr schnell und ich musste den bestimmten Absatz wiederholen. Aber er war niemals böse mit mir und voll des Verständnisses für alles, was einen bedrückte.
In der Zwischenzeit war es Ostern geworden, meine Zeit war um und ich hätte wieder nach Pressbaum zurückmüssen. Meine Mutter und Mausi waren noch im Spital und mein Großvater war gerade wieder in Wien, und ich flehte ihn an, mich doch wieder nach Brioni mitzunehmen. Er hatte Erbarmen mit mir und so konnte ich wieder meine geliebte sonnige Insel wiedersehen, wirklich ein Paradies auf Erden! Meine kleine jüngste Schwester war schon früher von meinem Großvater mit hinuntergenommen worden und wohnte mit ihrer lieben alten Kinderfrau im Kastell. Ich kam nun auch dazu und war glücklich. Annelie war für mich immer schon ein bisserl mein Kind. Ich durfte sie als Baby baden und füttern und mit ihrer lieben Iglauer Amme (sie war als Kind sehr zart) spielte ich immer Schnapsen.
Wir hausten nun zu dritt im alten Kastell. Die Frau meines Onkels war auch in Brioni und sehr hübsch und lebenslustig. Natürlich hatte sie immer einen Schwarm junger Marineure um sich und manchmal durfte ich auch dabei sein. So kam es, dass ich als junges Mädel damals schon einige junge Knaben um mich herumhatte. Meine Tante war umgeben von den Schiffleutnants, die ja schon die Kommandanten der U-Boote waren, und für mich waren die jüngeren Jahrgänge (Fregattenleutnants) gerade die Richtigen. Obwohl ich nur selten mitgenommen wurde, war es doch sehr spannend und romantisch, mit all diesen jungen Helden (denn das waren sie ja wirklich) zusammen zu sein. Sie waren aber wirklich alle reizend und ritterlich und behandelten mich wie eine Prinzessin. Ich nahm das alles als selbstverständlich hin. Sie benahmen sich eben alle als Herren und achteten doch auch das junge, unverdorbene Ding in mir. Natürlich hat mir einer ganz besonders gut gefallen, nur er neckte mich mit meiner Jugend (noch nicht ganz 15 Jahre) und ich behandelte ihn als älteren Herrn.
Dann kam der Tag, als sie auslaufen mussten, „auf Aktion“, wie sie es nannten. Vier Wochen sollten sie ausbleiben, aber sie kamen nicht zurück, sondern wurden vor Venedig von den Italienern versenkt. – Nach dem Krieg fand ich sein Grab auf der Friedhofsinsel von Venedig.
Das war vielleicht das erste Mal in meinem Leben, dass mir bewusstwurde, wie unerbittlich so ein Krieg ist. Aber bald vergaß ich es und andere Personen und Helden traten in mein Leben. Ich flatterte von Blume zu Blume, verteilte abwechselnd mein Wohlwollen – blieb ein junges Mädel und die Knaben meine Knappen. Da ich im Sommer meinen Geburtstag hatte, bekam ich eine schöne Geburtstagsjause und, da keine Mädeln auf der Insel waren, verkleideten sich einige Fregattenleutnants als Mädchen, was ganz besonders komisch war.
Da sowohl die U-Bootstation auf Bironi war und auf einer nahegelegenen Insel eine Fliegerstation (Wasserflugzeuge), waren wir natürlich mit allen befreundet und mein sehnlichster Wunsch war es, beides auszuprobieren. Eine Tauchprobe wurde besprochen und ich ging an Bord eines U-Bootes zur versprochenen Tauchprobe. Ich blieb natürlich im Turm beim Periskop, durch das man alles beobachten konnte, auch wenn man schon unter Wasser war, nur das Periskop musste sich noch über der Wasseroberfläche befinden. Dann gingen wir auf 40 Meter tiefe und man sah auch mit dem Periskop nichts mehr. Nur durch die dick verglasten Fenster konnte man hinaussehen. Es war eher dunkel und grün und man sah vereinzelt Fische vorüberschwimmen. Dann kommandierte der Kapitän das Auftauchmanöver und plötzlich gab es einen fürchterlichen Krach. Durch das Periskop konnte man nichts sehen und aus den unteren Räumen kam der ruf „die Spindel leckt“. Was dies bedeutete, war mir natürlich ganz unklar. Aber der Kapitän bewahrte seine Ruhe und ließ den Turmdeckel öffnen und da sahen wir, dass wir Gott sei Dank, schon ober Wasser waren, aber außerhalb der Barrikaden. Wir hatten bei dem Auftauchmanöver die Netze der Barrikaden durchgeschnitten und waren mit dem Periskop im Netz hängen geblieben. Dabei hatte sich das Periskop verbogen und den wüsten Krach verursacht. Wir waren alle sehr erleichtert, aber man konnte sich schon einen Begriff machen, wie es im Ernstfall sein würde. Natürlich wurde der arme Kommandant von seinen Kollegen deswegen ewig sekkiert.
Anders verlief mein erster Flug. Einmal zu fliegen, war natürlich mein ganz großer Wunsch, aber es war mir ganz streng verboten – noch ein Anreiz mehr!
Es gab zwei Brüder Ulmansky bei der Marine. Der eine war U-Bootler – genannt „alte Uli“ – und der andere war Marineflieger – genannt der „kleine Uli“ (obwohl er gar nicht klein war). – Ich war an einem Nachmittag allein zu Hause. Da läutete das Telefon, der alte Uli meldete sich und sagte, sein Bruder würde mich in einer Viertelstunde in der Bucht von Val Catena mit seinem Wasserflugzeug erwarten. So schnell war ich noch nie in diesem kleinen Hafen angelangt, natürlich mit meinem Hund Lordi, der immer mit mir war und mit dem alten Uli, der in der Zeit, da ich in der Luft war, den Hund hüten musste. Alles klappte prachtvoll! In das Flugzeug hinein, es war eine offene Maschine, Doppeldecker, man saß in der Gondel, die nur für zwei Personen Platz hatte – ober einem der Motor und Propeller.
Nun ging es los. Man sauste über das Wasser und schon war man in der Luft! Eine herrliche Beleuchtung, da die Sonne gerade im Untergehen war. Man sah die Liebe Missi unten spazieren und den guten alten Uli sich schnell mit dem Hund im Gebüsch verstecken. – Angst empfand man keine, es war nur rasend spannend. Als dann unter uns das Motorboot mit dem Kommandanten fuhr, deutete mein Pilot, dass wir einen Sturzflug unternehmen würden (wir konnten uns nur mit Gesten verständigen, da der Motorlärm so groß war, dass man nicht einmal seine eigene Stimme hören konnte). Ich hielt mich mit den Händen fest, Anschnallen gab es nicht, und schon waren wir über das Boot hinweggefegt. Es war herrlich und das Ganze ein riesen Prickel. Leider mussten wir aber bald wieder zurück, da man sonst meine Abwesenheit bemerkt hätte. Also wieder zurück nach Catena. Dort wartete schon der U-Bootsbruder mit Hund auf mich und ich war wieder zu Hause, als Missi zurückkam. – Natürlich hab‘ ich es ihr gleich gebeichtet, es war ein zu großes Erlebnis. Sie machte ein strenges Gesicht, aber da alles schon gut vorüber war, war sie bald wieder gut. – Als ich viele Jahre später im Marinemuseum in Bari so ein ehemaliges österreichisches Marineflugzeug sah, konnte ich mir nicht vorstellen, in so etwas eingestiegen, geschweige denn, damit geflogen zu sein. Aber wenn man jung ist, denkt man nicht an Gefahr, sondern genießt nur den Prickel des Augenblicks.
Immer ging es aber nicht so friedlich zu. Es kam die Zeit der italienischen Bombenangriffe auf Pola und besonders Brioni wegen der U-Boote. Besonders die Vollmondnächte waren sehr gefährlich. Wir waren natürlich gar nicht eingerichtet auf diese Dinge und flüchteten bei Alarm immer in den Keller unseres alten, tausendjährigen Turms, der natürlich ganz unsicher war und bei einer daneben explodierenden Bombe bestimmt in sich zusammengestützt wäre und uns hoffnungslos verschüttet hätte. Ich erinnere mich nur, dass ich oft allein mit meiner kleinen Schwester Annelie zitternd vor Furcht gesessen bin. Komischerweise hatte man dort wirklich große Angst gehabt, als es ringsherum krachte.
Mein 18. Geburtstag verlief noch fröhlich und unbeschwert. Ich bekam Berge von Blumen und kam mir endlich erwachsen vor. Aber schon kamen schlechte Nachrichten von den verschiedenen Fronten. Tag und Nacht hörte man den Kanonendonner von der italienischen Front und von der Bocca di Cattaro kamen Nachrichten von meuternden Matrosen. Die letzten Tage des Oktobers waren aber die schrecklichsten. Es kam die Nachricht, dass der Kaiser Karl die Marine den Jugoslawen geschenkt hätte und die Verwirrung war grenzenlos. In Pola begannen die Matrosen die Offiziere anzupöbeln, rissen ihnen die Distinktionen von den Uniformen. Plötzlich war die schöne einheitliche Kameradschaft in lauter verschiedene Nationen zerfallen und viele trachteten, so schnell wie möglich in ihre Heimat zurückzukommen, vor allem die Ungarn und Polen. Nur bei unseren U-Booten ging es noch ruhig zu, da hatten die Offiziere ja ein ganz anderes Verhältnis zu ihren Leuten. Es löste sich alles in Ruhe auf. Ich erinnere mich noch an den Anruf eines Obermaats, der die Telefonzelle bediente: wir sollten uns nicht fürchten, er halte seine schützende Hand über uns. Eine Woche beherrschte die jugoslawische (ex-österreichische) Marine Pola und wir waren schon halb froh darüber, da doch viele alte Freunde dabei waren. Da kamen eines Tages zwei italienische Torpedoboote in den Hafen von Pola gefahren, stürmisch begrüßt von den Jugoslawen (es war ja schon eine Woche Waffenstillstand). Am anderen Morgen versenkten sie im Hafen das größte Kriegsschiff, die „Viribus Unitis“ mit der jugoslawischen Flagge auf dem Mast und feierten es als eine riesige Heldentat! Es dauerte auch nicht mehr lange und die Jugoslawen mussten sich weiter nach Süden absetzen.
Leider war mein Großvater um diese Zeit nicht in Brioni. Er war gerade auf einer Forschungsreise in Serbien, um nach Mineralien (Gold) zu suchen. Er ließ sich auf einen Materialtransporter anschnallen und durchforschte tagelang die verschiedenen Berge. Leider verkühlte er sich dabei sehr stark und lag wochenlang mit hohem Fieber im Spital, das er dann leider nur mehr tot verlassen konnte. Wir waren um diese Zeit ganz abgeschnitten vom Hinterland und erfuhren alles erst, als er schon begraben war. Es war für uns ein sehr, sehr großer Verlust und vieles war in Brioni und in unserem Leben anders gekommen. Mein Onkel war nun der alleinige Leiter von Brioni und hatte ein recht schwieriges Problem zu lösen – mein Großvater hatte ja immer sein ganzes Vermögen und auch die Tantiemen seiner vielen Aufsichtsratsposten in die Insel gesteckt.
Es kamen außer den Italienern noch englische, sowie französische Schiffe nach Pola. Unsere armen zurückgebliebenen Marineure wussten nicht, wohin. Viele hatten gerade Besuch von ihren Familien. Die Bahn funktionierte nicht und sie waren der Gnade der Italiener ausgeliefert. Diese mobilisierten ein großes Schiff, das alle Heimkehrer aufnehmen sollte und versprachen ihnen, in drei Tagen wären sie über Venedig an der österreichischen Grenze. Es war der Allerseelentag – grauer Himmel, graues Meer und eine schrecklich traurige Stimmung. Wir standen am Molo und nahmen Abschied von allen unseren Freunden. Sehr lange winkten wir ihnen noch und dann blieben wir allein zurück unter lauter fremden Feinden, die uns auch so behandelten. Man beobachtete uns unentwegt; wenn wir ab und zu nach Pola fuhren, war immer jemand hinter uns, der uns beobachtete. Das italienische Kommando in Brioni war alles eher als vertrauenerweckend. Die Offiziere parfümiert, geschminkt, mit langen Zigarettenspitzen, stolzierten herum wie die Pfauen und waren wirklich widerlich.
Wir suchten nun mit unserer alten Missi (eine Schottin) die Verbindung zu den Engländern zu finden, was auch gelang. Sie beschützten uns vor den Italienern und taten auch alles, um das Eigentum der österreichischen Marineure zu sichern. Zum Beispiel beförderten sie bei Nacht und Nebel das gesamte Mobiliar aus der Villa Trapp (unser erfolgreichster U-Bootler) nach Fiume zur Familie seiner Frau (Whithead). Wir hatten auch Strandgut in Aufbewahrung und als die Italiener diese Dinge zu plündern begannen, durchsuchten wir alle Koffer und Kisten bei uns und versteckten alle Waffen und Zeiss Gläser so gut wir konnten. Die Zeiss Gläser waren alle im Harmonium in der Kirche versteckt und die Waffen wurden zum größten Teil in den Betten untergebracht. – Viele Jahre später, als alle Dinge wieder bei ihren rechtmäßigen Besitzern waren, wurde meine Matratze umgearbeitet und was fiel heraus? Das Magazin einer Browning-Pistole! Ich hatte jahrelang darauf geschlafen.
Dann kam kurz vor Weihnachten eine Feldpostkarte aus Venedig an uns durch, von einem Insassen des Flüchtlingsbootes. Man hatte sie nie an die Grenze gebracht, sondern wie Kriegsgefangene in ein feuchtes, kaltes Fort gesperrt. Nun, unsere Engländer funktionierten sofort erstklassig und in zwei Tagen waren sie in Österreich.
Langsam gewöhnten wir uns an das fremde Regime, es gab zwar immer wieder Scharmützel. Zum Beispiel fanden die italienischen Soldaten es sehr lustig, ihre Hunde auf brütende Fasanenhennen loszulassen und diese dann zu schießen. Unseren lieben Pfarrer Peter Krelinger – ein aufrechter Tiroler, der natürlich die Welschen hasste und außerdem ein passionierter, aufrechter Jäger war, erbitterte das ganz schrecklich. Er entriss einmal einem Italiener das Gewehr und wollte den Hund erschießen. Das bekam aber dem Armen sehr schlecht, er wurde verhaftet und in Ketten in das Gefängnis nach Pola überstellt. Zum Glück ging das Fenster seiner Gefängniszelle auf die Straße und war im Parterre, so konnten wir ihn doch halbwegs mit Lebensmitteln und gutem Zuspruch versorgen. Meinem Onkel gelang es dann, ihn frei zu bekommen, aber er durfte nicht mehr auf die Insel zurück, sondern musste wieder in seine Heimat nach Schwaz.
Einige Jahre später spielte sich etwas Ähnliches ab. Am Südpunkt der Insel waren Finanzer stationiert, die ab zu hereinkamen, um Post und dgl. zu holen. Sie hatten einen kleinen Wagen, vor den zwei ebenso kleine Esel vorgespannt waren. Nun malträtierten sie diese armen Tiere immer schrecklich mit der Peitsche. Meine Mutter, die sehr tierliebend war, kam gerade einmal dazu, riss ihnen die Peitsche aus der Hand und schlug wild auf die Männer ein, dass sie in das danebenstehende Haus flüchteten – unter den Rufen „ma signora, ma signora“. Ob es etwas genützt hat, weiß ich nicht, aber jedenfalls, wenn meine Mutter in der Nähe war, taten sie den armen Tieren nichts.