Wie ich bereits erzählte, zogen wir jedes Jahr am 1. Mai mit Sack und Pack nach Brioni und kehrten immer erst am 1. Oktober wieder zurück. Nachdem dieser Lebensrhythmus uns nicht erlaubte, eine reguläre Volksschule zu besuchen, wurden wir in der Volksschulzeit noch zu Hause von einem Privatlehrer namens Johann Weinhappel unterrichtet. Die notwendigen Prüfungen absolvierten wir im katholischen Schulverein im 1. Bezirk. Damals brachte ich eigentlich immer nur sehr gute Noten nach Hause, Johann Weinhappel war ein ausgezeichneter Lehrer. Christl stand mir da um Nichts nach, bis auf einmal: Ich kann mich erinnern, dass sie im Singen nur mit einem „Gut“ benotet wurde, mit der Begründung, dass sie die zweite Strophe der österreichischen Bundeshymne nicht wusste.
Unsere österreichische Bundeshymne
Zur österreichischen Bundeshymne gibt es ein paar erwähnenswerte Gedanken, zu denen ich kurz abschweifen möchte: damals, in meinen Kinderjahren, hatten wir als Bundeshymne noch die Haydn Hymne mit dem Text von Ottokar Kernstock. Die Haydn Hymne war eigentlich immer unsere Hymne gewesen, umso interessanter ist es zu sehen, dass Deutschland eigentlich unsere Hymne übernommen hat: Unter Kaiser Wilhelm sangen die Deutschen „Heil dem Siegeskranz“, die Melodie entlehnt von der britischen Hymne „God save the Queen“; 1938 übernahm das damalige Deutschland unsere Haydn Hymne, mit dem Text „Deutschland, Deutschland über alles“, was wir Österreicher dann bekannter Weise auch übernehmen mussten. Nach Kriegsende musste sich Österreich wieder eine Hymne finden, und wir hätten unsere ursprüngliche Haydn Hymne natürlich sehr gerne wieder zurückgehabt. In der Zwischenzeit galt es, eine „Übergangslösung“ zu finden: zu diesem Zweck machte ein Mitarbeiter von Minister Hurdes letzteren darauf aufmerksam, wir sollten uns vorsehen, eine Hymne eines noch lebenden Komponisten zu wählen, denn dann würden noch die Urenkel darum kämpfen, diese Hymne zu behalten. Nachdem man aber wollte, dass diese Hymne nur als Übergangslösung dient, ließ man Mozart „auferstehen“, der – nicht weiter überraschend – dann auch den Zuschlag bekommen hatte. Mozarts Musik sollte solange als Provisorium herhalten, bis wir unsere Haydn Hymen wieder zurückbekämen. Und weil in Österreich ja bekanntlich nichts so lange hält wie ein Provisorium, singen wir auch heute noch diese Hymne!
Im Schottengymnasium
Zurück zu meinen Schuljahren: Meine schulfreien Zeiten waren mit dem Beginn der Mittelschule vorbei. 1937 kam ich ins Schottengymnasium, was für mich keine geringe Veränderung bereute, schließlich war ich plötzlich einer von dreißig Schülern in einer Klasse, was ich bis dahin überhaupt nicht gewohnt gewesen war. Abgesehen davon war ich ein äußerst miserabler Schüler, und zwar nicht, weil ich es nicht geschafft hätte, es war mir nur so entsetzlich fad! Dieser Zustand jedoch ließ mich nicht minder gerne in die Schule gehen, ich war sehr gerne dort, und mehr als ein Jahr war mir dort ohnehin nicht vergönnt gewesen, mit dem Jahr 1938 sollte sich so einiges ändern. Davon aber wusste ich zu Beginn meiner ersten Klasse noch nichts. Superior des Stifts und Direktor der Schule war damals Pater Vinzenz Blaha, vor dem wir alle großen Respekt hatten. Wir als Primunzen, so wurden die Erstklässler bei den Schoten genannt, waren vogelfrei und mussten vor den älteren Jahrgängen immer auf der Hut sein. Immerhin hatten wir auf unserer Uniform erst einen silbernen Streifen, im Laufe einer Mittelschulkarriere mussten vier goldene Streifen erreicht werden! So kann ich mich zum Beispiel noch gut an die „Warnungen“ der älteren Schüler erinnern, wir sollten ja vermeiden, bei der zu Ostern verpflichtenden Beichte beim Schuldirektor zu landen, denn der würde uns keine Absolution erteilen. Natürlich war das ein Blödsinn, aber uns Primunzen konnte man damit zutiefst beeindrucken! Unser Klassenvorstand hieß Pater Leopold, er unterrichtete Latein und Deutsch. Leider schielte der Arme unendlich und man konnte sich nie so sicher sein, wen er gerade mit seinen Augen fixierte. Nachdem das Schottengymnasium damals wie heute eine streng katholische Schule war, wurde täglich vor der ersten sowie nach der letzten Stunde das Pater Noster gebetet, und es war streng verboten, vor dem Ende des Gebets seine Schulsachen einzupacken. Natürlich habe ich meistens schon während des Pater Noster Gebets begonnen, meine Schulsachen einzupacken, meistens wurde ich auch erwischt und musste deshalb nicht selten so lange auf meinem Platz bleiben, bis alle anderen den Klassenraum verlassen hatten. Auch Prügeleien waren unter uns Buben keine Seltenheit. So ist es nicht nur einmal passiert, dass mich der Chauffeur meines Vaters, der mich immer nach der Schule nach Floridsdorf zurückbringen sollte, an den Trägern meiner Lederhose aus dem „Prügelhaufen“ herausfischen musste. Ebenso habe ich unseren Gesang- und Naturgeschichte-Professor, Pater Amman Figlhuber, noch sehr deutlich vor Augen. Ich kann mich sehr lebhaft daran erinnern, als wir ihm vorschlugen, seine beiden bei uns unterrichteten Fächer doch zu kombinieren. Dementsprechend wurde Schuberts Forelle mit allen Strophen (es gibt über vierzig) gesungen, Pater Figlhuber begleitet uns dabei am Klavier.
Die Zeiten werden unruhiger
1938 änderten sich die Zeiten schlagartig. Alles ging drunter und drüber, plötzlich war der Unterricht sehr unorganisiert, wir wussten nicht mehr, wann wir von wem unterrichtet werden würden. Ich kann mich vor allem gut an die vielen Demonstrationen erinnern, und auch daran, dass wir Kinder in eigener Initiative nicht selten für Österreich demonstrierten. Als Hitler 1938 einmal nach Wien kam und im Imperial wohnte, wurden wir Jungen allesamt auf den Schwarzenbergplatz befohlen, um dort „zu jubeln“. Ich muss gestehen, dass wir Kinder das damals noch recht auf die leichte Schulter nahmen, hieß es doch für uns, einen Tag schulfrei zu bekommen. Es war uns damals, am Anfang des Nationalsozialismus in Österreich, noch nicht so ganz klar, wie sich die Dinge hier entwickeln sollten. Dennoch war uns schon 1938 die Vorstellung, eine Provinz zu werden, zuwider. Gleichzeitig darf man nicht unterschätzen, wie groß das Problem der damaligen Arbeitslosigkeit für Österreich tatsächlich war. Ich kann mich an diese Zeiten sehr genau erinnern, und die Bilder habe ich noch deutlich vor mir: nach der Schule fuhr ich mit der Elektrischen, dem 31er, nach Hause zurück. Die Fahrt führte mich über das damalige Überschwemmungsgebiet der heutigen Donauinsel. Dort sah ich abertausende Arbeitslose, die sich die Zeit zu vertreiben versuchten, denn Arbeit gab es einfach nicht genug. Dass diese Menschen damals keine Zukunft erkennen konnten, ist nicht schwer nachzuvollziehen, sie hatten nicht einmal eine Gegenwart. In so einem Zustand ist man sehr verwundbar und für alle neue Iden offen. Bis dato hatte man von Deutschland nur gehört, dass es dort viel mehr Arbeit gäbe, von Grausamkeiten welcher Art auch immer war 1938 noch nicht die Rede gewesen. Nachdem damals auch weder Fernsehen noch Radio einen geeigneten Nachrichtenübermittler darstellten, hat man eigentlich nur erfahren, dass in Deutschland die große Arbeitslosigkeit gut bekämpft worden war. Jedoch noch im selben Jahr, also 1938, wurden alle Klosterschulen zugesperrt, somit waren auch wir Schotten plötzlich auf der Straße. Die gesamte Schule übersiedelte ins Akademische Gymnasium, das mit zwei kompletten Schulen verständlicher Weise überlastet war. Nach nur drei Wochen wurden wir wieder in unsere ursprünglichen Klassen bei den Schotten einquartiert, gemeinsam mit dem Wasagymnasium aus dem 9. Bezirk. Das Wasagymnasium selbst wurde zur Bereichsleitung der NSDAP für den 9. Bezirk umgewidmet. Von dieser Zeit ist mir besonders die Erinnerung an einen Lehrer geblieben, der mir zu Schulzeiten ein wichtiger Protektor war und mir später ein ganz besonderer, väterlicher Freund geworden ist, mein Musikprofessor Prof. Eduard Monsé-Zesmeta, bei den Schulbrüdern besser als Bruder Franz Joseph bekannt. Neben dem Musikunterricht lernten wir bei ihm auch Komposition (ich habe sogar einmal einen vierstimmigen Choral komponiert!), und wir wurden mit ihm regelmäßige Opernbesucher auf der vierten Galerie. Mein zweiter Protektor, und ich hatte diese beiden Protektoren während meiner Schulzeit wirklich dringend notwendig, war mein Turnprofessor gewesen, der jedoch leider im Krieg fiel. Der Schulunterricht ging weiter, aber die Zeiten hatten sich für immer geändert und hatten ihre Leichtigkeit verloren.