In einer Familie aufzuwachsen, die sich über mehrere Generationen, Stämme, Städte und Länder erstreckt, war für mich nicht einfach. In der nächsten Umgebung der Verwandtschaft kannte ich meinen Platz, doch weiter entfernt war ich mir stets unbewusst, wo und wie ich mich selbst einzuordnen hatte. Das wenige, das ich über weiter entfernten Angehörigen wusste, waren meist nur die Namen, die in Konversationen oder Erzählungen mit Selbstverständlichkeit erwähnt wurden. Bei großen Familienfesten, die in meiner Kindheit noch stattfanden, wurde ich herzlich von Menschen beim Vornamen begrüßt, deren Gesicht ich im besten Fall flüchtig kannte, aber die mir trotzdem fremd waren. Mit der Zeit füllten sich Lücken in meinem imaginären Stammbaum, doch essenzielle Knotenpunkte blieben in meinen Gedanken für lange Zeit nicht verknüpft.
Gegen Ende des vergangenen Jahres 2022 bot sich mir durch eine Pause zwischen zwei Anstellungen die Zeit, meine eigene Familienhistorie für mich selbst aufzuarbeiten. Ich erinnerte mich an einen dicken, schwarzen und abgegriffenen Ordner, der über viele Jahre und Umzüge hinweg mit mir wanderte, dem ich aber nie Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Dieser Ordner, auf dem Rücken betitelt mit „Gustav Piffl – Familienerinnerungen“ gelang als Besitz meines Vaters in meine Hände, womöglich durch falsches Einsortieren bei einem Umzug, oder schon als früherer Versuch, die Familienhistorie zu erkunden.
Bereits nach dem ersten Durchblättern der maschinengeschriebenen Seiten wurde mir bewusst, dass es sich hier um mehr als die Antworten zu meinen lange gestellten Fragen handelte: ein Zeitzeuge in schriftlicher Form, der das damalige Leben in und um die weite Familie herum aus erster Hand wiedergibt. So begann meine Reise durch die Geschichte, die sich schnell von der Selbstfindung zur chronischen Detektivarbeit entwickelte. Doch die losen und teils sehr schwer leserlichen Blätter in dem auseinanderfallenden Ordner waren nicht die adäquate Form, diese Reise fortzusetzen. Immer schon sehr an Geschichte interessiert, war mein nächstes Ziel, die Worte meines Vorfahren zu bewahren, in digitaler Form. Die erste, und bei weitem nicht letzte Anschaffung des Projektes wurde getätigt: ein Scanner mit schnellem Serieneinzug – ein Stapel an Seiten hinein, hochauflösende Scans heraus. Auch wenn der Scanner mir das mühsame Einlegen einzelner Seiten ersparte, verbrachte ich trotzdem einige lange Abende mit dem Füttern des Geräts, anpassen von Scan-Einstellungen, digitalem Verbinden der einzelnen Dateien und einem gesunden Maß an Gefluche, wenn der Scanner erneut mehrere statt einer einzelnen Seite auf einmal einzog. Qualität der digitalen Reproduktion war mir wichtig, wodurch am Ende ein PDF mit über 380 Seiten und 2,5 Gigabyte Größe entstand. Auch wenn an diesem Punkt zumindest die Originalversion bewahrt war, war ich längst nicht zufrieden. Ich wollte in die Geschichte eintauchen, recherchieren und herausfinden, was mein Ururgroßvater seinerzeit erleben konnte.
Mein Ururgroßvater, Gustav Piffl. Seine Tochter Adolphine, von der Familie stets liebevoll „Omina“ genannt, war in meiner Kindheit noch eine präsente Person, die ich sehr schätzte. Noch heute habe ich sie als enorm resiliente Frau in Erinnerung, die in ihrem damaligen hohen Alter von 96, trotz beidseitiger Amputation beider Beine unterhalb der Knie und Schwierigkeiten mit der Sprache durch Schlaganfälle, noch für den einen oder anderen Spaß zu begeistern war. So konnte ich den ersten greifbaren Knoten knüpfen und meinen geistigen Stammbaum erweitern. Warum nicht gleich noch tiefer gehen? Warum nicht meine Erfahrungen mit anderen teilen? Vielleicht befinden sich andere Familienmitglieder in ähnlichen Situationen und wollen mehr über die Vergangenheit erfahren? Verbunden mit der Gelegenheit, als Grafiker ein gesamtes Buch zu gestalten, begann der lange Prozess, Gustavs Erinnerungen Wort für Wort zu transkribieren und in ein gebundenes Werk zu verarbeiten.
Anfangs dachte ich, ein paar Wochen lang gemütlich abends mit Lesen und Tippen beschäftigt zu sein. Wochen wurden zu Monaten und schlussendlich schreibe ich diesen Artikel ein gutes Jahr nach Beginn des Abenteuers. Das Abtippen selbst war an sich recht einfach – bei gutem Tempo konnte ich mehrere Seiten in einer Sitzung niederschreiben. Doch diese „leichten“ Seiten waren eher die Ausnahme. Die maschinengeschriebenen Seiten von Gustav variierten punkto Lesbarkeit drastisch. Abdrucke der noch nicht getrockneten Vorderseite, überschriebene Zeilen, doppelt und dreifach übertippte Worte, bis hin zu komplett unleserlichen Seiten durch Schäden der Zeit. Des Öfteren betrachtete ich einzelne Buchstaben durch einen Fadenzähler und verglich historische Schriftsätze mit den Zeichen vor mir, nur um ein einzelnes Wort zu entziffern. Wenn das nicht gelang, wanderte die gescannte Seite in Photoshop, um dort die einzelnen Helligkeitstöne des Toners unterscheiden zu können und lesbar zu machen. Manche Seiten wurden akribisch über Tage hinweg bis auf die Fasern des Papiers untersucht, keine Methode war hier zu aufwändig.
Auch wenn die niedergeschriebenen Informationen viel mehr vermittelten, als ich mir anfangs erhoffte, blieben manche Details verborgen. Wer war dieser erwähnte Doktor Fürth? Wie sah das beschriebene Haus am Franziskanerplatz 1 aus, oder das Schloss Rabenstein? Mit der inhaltlichen Aufarbeitung entstand so nun ein Recherche-Aspekt, der oft an jahrhunderteübergreifende Detektivarbeit erinnerte und einen substanziellen Teil der Bearbeitung bildete. Maßgeblich hilfreich waren hier die Archive der Österreichischen Nationalbibliothek, die über enorme Tiefen an Ressourcen verfügen. Einiges an geschichtlichem Bildmaterial, das die Worte von Gustav visuell unterstützt, konnte ich ebenfalls durch das Bildarchiv der ÖNB erwerben und so an einigen Stellen des Buches das Erzählte bildlich darstellen.
Natürlich ist auch zu erwähnen, dass die umfangreiche Bildsammlung der dynastiemautnermarkhof-Website einen großen Beitrag zu den bildlichen Anschauungen geleistet hat. Hier fand ich einige sehr wertvolle Bilder, die zusammen mit Scans von eigenen Familienalben, aufwändig über viele Stunden aufbereitet und retuschiert, ihren Platz neben den Erzählungen finden.
Die Arbeit an diesem Buch über das letzte Jahr hinweg hat es mir ermöglicht viel zu lernen – über die weite verzweigte Familie, über die Geschichte der damaligen Zeit, über Gebräuche und das Leben vor so vielen Jahren. Auch wenn heute mein geistiger Stammbaum noch nicht ganz gefüllt ist, liegt das weniger an einem Mangel an Informationen, sondern vielmehr an einem Überschuss derselben, für den ich dankbar bin.
Zum Buch
Alle Familienmitglieder, die Gustav Piffls Lebenserinnerungen auch in gedruckter Form bewahren möchten, können sie gerne bei mir bestellen.