Erzählungen über ein Familienmitglied
Folgende Geschichte hörte ich von einer Antiquitätenhändlerin, die mit der Hauptperson der Erzählung Kontakt pflegte. Besagte „Adele“ übergab dem Antiquitätengeschäft Briefe von meinen Vorfahren sowie Familienfotos. Alle diese Unterlagen befinden sich nun in meinem Besitz. Der Bezug zum Heute ergibt sich durch die interessante Verwendung des Würzmittels Senf. Die Firma Mautner Markhof ist ja bekanntlich mit ihren diversen köstlichen Senfsorten eindeutiger Marktführer in Österreich.
Als eher missglücktes Produkt einer aus Vernunftgründen geschlossenen Verwandtenehe verlebte Adele eine dem Reichtum der Eltern entsprechende kühle Jugend, die ihren Anlagen durchaus entsprach. Die Eltern sah sie kaum, Erzieherinnen und Personal gehorchten ihr. Da ihre hervorstechenden Eigenschaften Trägheit, Eitelkeit und Bosheit waren, bot sie wenig Platz für Emotionen. Als sie ein Kind war, war es gerade noch ein Stoffaffe, der Gnade vor ihren Augen fand und vom Personal gegen ihren Willen verhüllt mit in die Sonntagsmesse kommen musste. So gelang es ihr einmal während der heiligen Stimmung der Wandlung, ihn auf die Stelle im Bauch zu drücken, wo dies ein laut plärrendes, quietschendes Geräusch verursachte. Die empörten Blicke, die genoss sie, es war fast ein Triumph. Aus der Sicherheit des umzäunten Parks heraus Kindern, Hunden und Vögeln Steine nachzuwerfen, später mit Kapselrevolvern durch Schüsse zu erschrecken, dem Personal durch gespielte Ohnmachtsanfälle Angst einzujagen, das gehörte zu ihren großen Freuden. Sie wurde zu einem gefürchteten kleinen Monster. Im Salon bei Tisch nicht oft zugelassen, da benahm sie sich jedoch. Um dann aber doch Aufmerksamkeit zu erregen, verlangte sie zu jeder Speise Senf, und wenn sie dann auf Torten, Cremen oder Schlagobers ihre Senfkringel platzierte und auch aß, steigerten sich die bereits bekannten Ansichten über diesen verwöhnten Fratz mit der nicht unbegründeten Meinung, dass sie wohl nicht ganz bei Verstand sei. Als sie größer geworden war, gaben einander Gouvernanten und Hauslehrer die Türklinke in die Hand. Kaum einer blieb länger als zwei bis drei Monate. Was man bei dem Kind – dank des guten Salärs – noch zähneknirschend akzeptierte, jetzt wuchs mit ihrem hübschen Körper und der gut entwickelten Intelligenz auch das Raffinement ihrer Aktionen. Einmal meldete sich ein eher großer bäuerlich wirkender Theologiestudent, der sich in den Ferien als Hauslehrer etwas verdienen wollte. Man hoffte und nahm an, dass er vielleicht mit Güte und Nachsicht dieses ungebärdige Wesen zur Räson bringen könnte. Als sie ihm aber während einer Lateinstunde eine Tube Senf ins Gesicht drückte, da wischte er die Bescherung ab und gab ihr zwei kräftige, senftriefende Ohrfeigen, und – es passierte nichts – sie ging wortlos hinaus. Als ob nie etwas geschehen wäre, wurden die künftigen Stunden abgewickelt. Nur, sie begann charmant zu werden, war jedoch selbst erstaunt über diese ihr bisher unbekannte Facette, vor allem aber über die Wirkung. Der „Bauernlackl „, wie sie ihn nannte, wurde handzahm, verliebt über beide Ohren, und, um ihre Neugier zu stillen, endete diese merkwürdige Verbindung im Bett. Offenbarung war es für sie keine, ihn aber brachte diese Affaire dem Selbstmord nahe. Da er aber ins Seminar zurückging, sie zur Vollendung ihrer damenhaften Ausbildung in ein vornehmes Pensionat kam, war diese Episode beendet. Etwas Neues kam in ihr Leben – Schmuck. Großmama war gestorben, sie war die einzige Erbin, und sie bekam einiges an Juwelen, viel zu früh, gleich in die Hand. Als sie es sich wie gewohnt nicht nehmen ließ, behängt wie ein Zirkuspferd zum Frühstück zu erscheinen, in einem Internat, das noch für alle die gleiche einfache Kleidung vorschrieb, schickte man sie quasi dankend an die Eltern zurück. Was nun tun mit ihr? Achtzehn Jahre alt war sie nun, nicht schön, aber sie hatte neben der guten Gestalt ein interessantes Gesicht. Dazu sehr viel Geld aus Großmamas Erbe, und sie tat wie immer, was sie wollte. Ihre Lieblingsbeschäftigung war nach wie vor, ihre Umgebung zu schockieren. Bald kam die beste Gelegenheit dazu. Bei einem Empfang in einer Botschaft lernte sie einen jungen chinesischen Konsulatsbeamten kennen, der ihr verfiel. Weiß und farbig war damals noch ein absolutes gesellschaftliches Tabu. Das war etwas für sie, und weg von zuhause, weit weg, das wollte sie. Und es gelang ihr auch, denn auch ihren Eltern war das Weit-Weg sehr angenehm. Sie ging mit ihm nach Asien, trennte sich aber sehr bald von ihm. Und lebte ein sehr freies Leben, das ihr, neben der Begeisterung für alte chinesische Trachten, bestickte Seidengewänder, auch Männer, viele Männer zum Spielzeug bescherte. Einen Engländer, so verrückt wie sie, heiratete sie. Er war Juwelenhändler, und sie liebte Schmuck über alles. Das Wühlen in den bunten, aber echten Steinen war ihr Befriedigung, mehr allerdings noch der Besitz. Sie hatte schon seit ihrer Jugend viel bekommen, und da kam noch manch besonders schöner Stein dazu. Sonst aber, so wie andere Briefmarken, Münzen oder Bierdeckel sammeln, sie sammelte ihre geliebte Speisenzutat- Senf: süßen, sauren, scharfen, roten, grünen, gelben, in Tiegeln, Töpfen, Tuben. Es wurde zur Manie. Zu jeder Mahlzeit gab es lange Überlegungen, welcher Senf zu welcher Speise, immer noch auch auf Mehlspeisen, passte. Gäste schauderten schon bei dem Gedanken an Schokolademousse mit Curry Senf garniert. Immerhin sie verzehrte es alleine – und bald war sie auch sonst alleine. Ihr Mann starb, auch da hielten sich ihre Emotionen in Grenzen. Und was sonst an Bekannten herum war – eine alternde Frau, deren Absonderlichkeiten man zur Genüge kannte, war nicht mehr besonders interessant. Sie ging zurück in ihre Vaterstadt und wurde – um Geld hatte sie sich nie gekümmert, es immer nur ausgegeben – von der Mitteilung der Bankdirektion peinlich überrascht, dass auch das elterliche Vermögen fast aufgebraucht sei. Im großen Stil also, vor allem mit Dienstboten, konnte sie nicht mehr leben. Den Rat, Schmuck zu verkaufen, lehnte sie kategorisch ab. Lieber ein bescheideneres Leben. So nahm sie eine einfache 3-Zimmer-Wolmung, Salon, Schlafzimmer und – Senfzimmer. Das war wirklich lustig anzusehen, denn was es an Gebinden aus der ganzen Welt des Senfes gab, sie hatte es. Sie begann zu verschlampen. War es immer noch der Wunsch, zu schockieren, war es einfach Gleichgültigkeit, wenn sie total unfrisiert unter dem Nerzabendmantel im verschmuddelten Nachthemd in die Stadt fuhr, um einzukaufen? Wurde sie, selten genug, eingeladen – amüsant war sie ja immer noch – allerdings begleitet mit der Bitte, ordentlich angezogen zu kommen, dann tat sie es und kam behängt mit herrlichem Schmuck und einem etwas bejahrten Dior-Kleid, vergaß aber, Schuhe anzuziehen, und kam in Hauspatschen. Mit der entfernten Verwandtschaft verband sie nichts, was durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte. Ihr war der Gedanke – nahe Angehörige hatte sie ja nicht -, dass diese automatisch ihre Erben würden, unerträglich. Schon gar als sie hörte, dass sie von ihnen die „chinesische Senftant´“ genannt wurde. So sann sie auf Rache. Diese kam schneller, als sie dachte. Erst aber traf es sie selbst: Sie wollte plötzlich, nach 50 Jahren, wieder Motorrad fahren. Einer Betonwand, gegen die sie fuhr, war sogar dieser Kopf nicht gewachsen. Ein ordnungsgemäßes Testament zugunsten von Neffen und Nichten war vorhanden, in dem sie bat, ihr kleines Senfmuseum, wie sie es nannte, zu erhalten. Die Erben fanden alles, chinesische Prachtgewänder, Pelzmäntel, reichlich ramponierte Kleider der europäischen Couturiers. Schlamperei, auch beginnender Schmutz, wo man hinsah, und den unangenehmen, säuerlichen Geruch teils ausgeronnenen Senfs, jedoch nichts von den akribisch aufgelisteten, kostbarsten Schmuckstücken. Wut und Verbitterung waren groß. Als erstes flogen alle Senfbehälter in den Müll. Mit ihnen all der wertvolle Schmuck, den sie darin versteckt hatte. Der letzte Bosheitsakt eines wohl unglücklichen Lebens war gelungen. Nein, noch etwas hinterließ sie – dem Staat: Uneinbringliche vier Millionen Schilling Steuerschulden. DAS nun bescherte ihr von so manchem ein amüsiertes Gedenken.
Verfasst von Gerty Faschingbauer-Philippovich