Dezember 1965, eine Hochzeit am Franziskanerplatz
Samstag, 11. Dezember 1965. In der großen, damals noch sogenannten Conte Corti-Wohnung im dritten Stock des Hauses Nummer 1 am Wiener Franziskanerplatz, war die dort beinahe vollzählig versammelte Familie Bertele bereits um 7 Uhr morgens auf den Beinen. Nur zwei der Geschwister, Emy und Hansi, waren leider Gottes nicht anwesend.
Das unaufhaltsame Ticken und Klingeln von einem Drittel der ungefähr 120 Steh-, Tisch- oder Laterndluhren, die sich über die ganze Wohnung verteilten, hatte so manches Familienmitglied schlaflos gehalten. Jedenfalls schien niemand einen Wecker gebraucht zu haben. Am allerwenigsten ich Ursula, die künftige Braut, mit Kosenamen Ucki. Schon vor 7 Uhr war ich aufgestanden, um das Badezimmer in meinem Appartement für die restliche Geschwisterschar frei zu machen. So riesig die Wohnung auch war, verfügte sie über nur zwei Badezimmer und diese noch dazu ohne Dusche. Nichts desto trotz wollte jedes der Geschwister seine Morgentoilette genießen, deswegen hatte ich es sehr eilig.
Selbst dem sonst so äußerst autoritären Familienvater Hans, Baba gerufen (weder Papa noch Papi, sondern seit eh und jeh auf eigenen Wunsch so genannt, anscheinend, weil mein ältester Bruder Otto das Wort Papa bei einem seiner ersten Sprachversuche so herausgebracht hatte), war es an diesem Morgen nicht gelungen, die Familie ordnungsgemäß und gesittet zum gemeinsamen Frühstück um den Speiszimmertisch zu versammeln. Manch eines der Kinder wagte es sogar der väterlichen Autorität dahingehend zu trotzen, indem es, stehend, Vorräte, die für die kommenden Tage gedacht waren, bereits an diesem Morgen genüsslich verzehrte. Nur aufgrund des besonderen Tages war es glücklicherweise nicht zu einem Krach gekommen.
Pünktlich um 9 Uhr läutete es an der Tür. Damals hatte es auf der 1. Stiege des alten ehrwürdigen Hauses noch keinen Aufzug gegeben (es existiert noch eine zweite, bescheidenere Stiege, die man durch den Hof erreichen kann). Man musste das prächtige breit angelegte steinerne Stiegenhaus zu Fuß begehen. Hohe Stockwerke gab es da, bis zum dritten Stock mit bis zu vier Meter hohen Plafonds. Keinen Schummel mit Hochparterre und Mezzanin, wie es in Wien im 19. Jahrhundert dann eingeführt wurde.
Es hatte die junge Friseurin aus der Weihburggasse an der Tür geläutet. Ein liebes Geschöpf, das ich gut kannte, weil sie mir in der Faschingszeit die Haare für die Bälle immer recht schön machte. Keine leichten und dankbaren Haare, die meinigen – seit jeher wie Spinnenweben. Aber dank ihr war ich binnen einer halben Stunde schon recht hübsch aufgeputzt. Leider kann ich mich weder an ihren, noch den Namen des damals sehr bekannten Salons, der schon längst nicht mehr existiert, erinnern.
Wiederum läutete es. Diesmal wurde das wunderschöne Brautbouquet geliefert. Es hatte kaum einen Weg zurückzulegen, die Blumenhandlung befand sich praktisch ums Ecke, in der Singerstraße, in einer der Dependancen des Franziskanerklosters.
Die Hochzeit sollte um 11 Uhr, gleich gegenüber in der Franziskanerkirche stattfinden. Nur ein paar Schritte waren es vom Haus und ich wollte nur im Brautkleid, ohne Mantel und sonstigen Schutz, den Platz überqueren. Obwohl der Tag kalt war, nur ein paar wenige Grade über Null, schien die Sonne bei blauem Himmel. Welch’ ein Glück, ich würde trocken und ohne einen Schirm zu benötigen die Kirche erreichen können.
Eine halbe Stunde vor dem Gang zur Kirche sollten sich engerer Familienmitglieder unten in der Halle versammeln, um den von Onkel Bili sorgsam geplanten Brautzug zu bilden. Mittlerweile gab es ein lustiges Getümmel in der Wohnung. Nur Baba verfügte über einen eigenen Cut, ich glaube er hatte ihn für die Hochzeit extra anfertigen lassen (den Zylinder hatte er allerdings verweigert). Otto und der noch junge aber hochgewachsene Ulrich hatten sich ihre Outfits in der Leihanstalt besorgt; irgendwo draußen an der Wieden oder im dritten Bezirk – ein Wiener Moss Bros. Auch sie gingen ohne Zylinder.
Ich schließlich kleidete mich in ein schlichtes, langärmeliges Brautkleid und Schwester Liesl – so denke ich jedenfalls – setzte mir den Schleier und das kleine zierliche Kopfband auf. Liesl war bereits seit einigen Jahren in Pakistan mit Syed Afzel Naqvi verheiratet gewesen und hatte damals schon drei oder vier Kinder. Sie war am Vorabend angereist, wie immer sprühend voller Lebensenergie und keine Spur von Jetlag. Bildschön war sie, in einen prachtvollen Sari gekleidet. Für den Weg zur Kirche allerdings und um in ihr nicht zu erfrieren, wurde ihr dann glücklicherweise ein Pelzmantel geliehen.
Etwas vor halb elf begaben sich die meisten der Familie hinunter in die Halle, um sich von Onkel Bili in den Brautzug “einordnen“ zu lassen. Nur Baba und ich warteten weiterhin oben, weshalb ich über das, was sich unten abspielte, nicht berichten kann. Jedenfalls löste Onkel Bili alles, auch laut Protokoll, bestens. Protokoll gab es da genug und Onkel Bili hatte seinen Spaß daran. Dazu muss ich nun natürlich und endlich auf den spanischen Bräutigam José Manuel Allendesalazar Valdés kommen und auf die restlichen, die den Brautzug bildeten.
Mein zukünftiger Mann, ein junger Diplomat, war am 8. Dezember mit seinen Eltern von Madrid nach Wien geflogen. Seine Cousine und ihr Mann hatten – zusammen mit einer 14jährigen Nichte, die als älteste Tochter ihren Vater vertrat – die Reise von Madrid über Paris im Zug unternommen. Sowohl Josés Vater sowie Guillermo, der Mann seiner Cousine, waren Militärs im Rang eines Oberst und erschienen beide in Uniform. Und beide mit vielen Medaillen dekoriert. Guillermo war im Zweiten Weltkrieg als blutjunger Mann Mitglied der Blauen Division und – zur Bekämpfung des Bolschewismus – mit ihr und der deutschen Armee in Russland gewesen, wo er mit dem Eisernen Kreuz mit der Swastika ausgezeichnet worden war (er trug es aber nicht unter den sonstigen Medaillen). Diese spanische Familiengruppe war die kurze Strecke vom Hotel Kaiserin Elisabeth in der Weihburggasse zu Fuß gegangen und hatte so schon viele Blicke auf sich gezogen. Auch die spanische Botschaft, die komplett erschienen war, erregte bei den vielen Zaungästen am Platz große Aufmerksamkeit. Vor allem die ausnahmslos gutaussehenden Herren in der auffallend schönen, dunkelblauen, mit Goldfäden verbrämten Diplomatenuniform, die natürlich auch vom Bräutigam getragen wurde. Eigens für die Hochzeit hatte er sie schneidern lassen. Ein teurer Spaß. Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten gewährte Kredite, die von den jungen Diplomaten euphemistisch der Sarg genannt wurden. Für die Herren war es ein ausgesprochener Gala-Tag. Außer meiner Schwester Liesl, gekleidet im Sari, und möglicherweise auch mir, der Braut, konnte keine anwesende Dame auch nur annähernd so viel Aufsehen erregen.
Anhand der mittlerweile schon vergilbten Fotos ist es mir gelungen, den Brautzug, der vom Haus zur Kirche schritt, wieder zu rekonstruieren. Angeführt wurde er von José Manuel mit seiner Mutter Carmen am Arm. Nur drei erwachsene männliche Berteles konnte man zählen – meinen Vater Hans mit seinen Söhnen Otto und Uly. Ein Familienschicksal an spärlich vorhandenen männlichen Nachkommen, das sich auch in meiner Generation fortsetzt. Nur ein einziger ist übrig, der den Familiennamen vererben kann – und dieser lebt in England. Ganz im Gegenteil mütterlicherseits, bei der Familie Mautner Markhof, welche zahlreich vertreten war. Sie teilt sich in die Linie der “weißen“ (blonden) Mautners, abstammend von Georg II. Anton und Emy Reininghaus, und die der “schwarzen” (dunkelhaarig), abstammend von Theodor I.. Marceline, meine Mutter, war als Tochter Georg Antons folglich eine „weiße“ Mautner Markhof. Unter den “Schwarzen”, ragte damals Manfred I. heraus, nicht nur aufgrund seiner beachtlichen Körpergröße, sondern auch sehr würdig mit Zylinder. Inmitten des Brautzuges auch die gute alte Tante Hansi, Witwe von Onkel Werner Reininghaus, die mir lieberweise das von mir selbst entworfene Brautkleid genäht hatte.
So schritten alle feierlich über den Platz und endlich in die Kirche. Dort, in einer der ersten Bänke, saß die liebe Omi, Emy Reininghaus/Mautner Markhof, damals noch keine achtzig Jahre alt. Etwas jünger, als ich heute bin, feierte ich doch im Dezember 2021 meinen achtzigsten Geburtstag. Erstaunlich, wie sich die Wahrnehmung ändert, waren mir doch sowohl sie als auch die Bertele-Großmutter, genannt Momo, uralt vorgekommen, auch schon lange davor, als sie rückblickend noch keine sechzig Jahre zählten. Anwesend waren auch der Photograph vom renommierten Atelier Winkler Ecke Singerstraße, den ich extra gebeten hatte, während der Kommunion vom Fotografieren abzusehen. Der sehr gute Orgelspieler und Priester, der die Messe las und uns traute, waren Freunde von Baba. José Manuel und ich hatten bereits am Vortag mit dem jungen bebrillten Pater Ludwig, der wie eine Eule aussah, die Zeremonie geprobt. Babas Freund hingegen war ein blendend aussehender, graumelierter Mann, vom Erzbischofamt, der jedoch bald nach unserer Hochzeit das Priesteramt zurücklegen sollte. Die Mautner-Familie, hätte es gerne gesehen, wenn die Trauung vom lieben alten Pfarrer Oppolzer, der irgendwo im Wienerwald eine Pfarre betreute, vorgenommen worden wäre. Mir selbst wäre Pater Cornelius von Heiligenkreuz am liebsten gewesen, doch Baba hatte eisern auf seinen Pater Bachleitner bestanden und wie bei allen Dingen, die er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, war daran durch nichts und niemanden zu rütteln.
Ein weiteres etwas ungewöhnliches Schauspiel bot das Aufgebaut an Trauzeugen, das nach spanischer Sitte üblich war. José Manuel hatte seinerseits seinen Vater, Guillermo, den Mann seiner Cousine, den spanischen Botschafter und zwei weitere Mitglieder der spanischen Botschaft – – insgesamt fünf. Onkel Bili, soviel ich mich erinnere, war in Sorge, dass unsere Seite zu kurz kommen könnte und so bat er als meine Trauzeugen seinen ältesten Bruder Georg III. Buwa, damals Oberhaupt der “weißen“ Mautner Markhof-Linie, und auch meinen Bruder Otto. Der jüngste spanische Diplomat wurde dafür auch auf unserer Seite des Altars platziert, um das optische Bild ausgeglichener zu gestalten. Eigentlich ganz amüsant, an welche Kleinigkeiten man sich nach so vielen Jahren noch erinnert! Dazu fällt mir auch die spanische Sitte des “Brautkaufs” ein. 13 neue glänzende Peseta-Münzen hatte José Manuel eigens dafür mitgebracht.
Nach der Messe wurden die Papiere in der Sakristei unterschrieben, dort begaben sich anschließend auch alle Hochzeitsgäste hin, um uns ihre Glückwünsche auszusprechen. Noch immer habe ich Tränen in den Augen, jedes Mal, wenn ich das Foto der lieben Omi betrachte, als sie mich zutiefst ergriffen umarmte. Momo, Babas Mutter Elsa Arailsa Bertele, spanisch-baskischer Herkunft, konnte nicht anwesend sein, weil sie, obwohl gleichaltrig wie Omi, bereits damals schwer von heftigen Gelenksschmerzen geplagt, in einem von Klosterschwestern geführten Heim in Vorarlberg, am anderen Ende von Österreich, weilte.
Draußen am Franziskanerplatz hatten trotz der Kälte sehr viele Zaungäste ausgehaart, um die Hochzeitsgesellschaft noch einmal beim Verlassen der Kirche zu betrachten. Auch wurde über das Ereignis am nächsten Tag in einer der Zeitungen in der Rubrik Wien intim berichtet. Merkwürdigerweise erschien ein Foto der Trauung auch zwei Jahre später als Titelbild des Presse-Artikels Am liebsten eine Kirche mit Freitreppe. Wir erfuhren darüber über seltsame Umwege: Ein Kollege José Manuels erhielt den Zeitungsauschnitt in Dakar/Senegal von seinem österreichischen Kollegen und schickte ihn uns dann weiter nach Lima (Peru war José Manuels erster Auslandsposten).
Um 13.00 Uhr fand das Mittagessen im Hotel Bristol statt. En petit comité – es waren ca. 30 Personen geladen. Omi und José Manuels Vater, damals auch fast achtzig, konnten sich bestens auf französisch unterhalten. Der Botschafter, Antonio Luna, der kein Berufsdiplomat, sondern lange Jahre hindurch in Den Haag am Obersten Gerichtshof tätig gewesen war, hatte sehr gut deutsch gesprochen. Die anderen Botschaftsmitglieder weniger, weshalb man sie zur spanischen Familientruppe platziert hatte. Alles war bestens verlaufen.
Um 15.00 Uhr fand dann der riesige Empfang in der Wohnung am Franziskanerplatz statt. Das Catering, wie man heutzutage sagt, wurde vom Gerstner ausgerichtet. Damals noch unter der Leitung der guten alte Frau Gerstner und das Geschäft war noch auf der anderen Seite der Kärntnerstraße. Hauptsächlich ich selbst hatte die Vorbereitungen mit ihr getroffen und natürlich nur lauter köstliche Sachen gewählt. Österreicher sind ja nicht nur Feinschmecker, sondern auch zu jeder Stunde bereit es sich mit Speis und Trank gut gehen zu lassen. Alle waren sie gekommen, die Kirchengäste und darüber hinaus noch viele, viele mehr. Fast durchgehend Freunde der Eltern und natürlich die Mitglieder der zahlreichen Mautner Markhof-Verwandtschaft. In der heutigen Zeit hat sich das wesentlich verändert, da die meisten Hochzeitsgäste aus jungen Leuten bestehen, den Freunden des Hochzeitspaares.
Zum Abschluss noch etwas Lustiges: In Baba war in den Tagen kurz vor der Hochzeit plötzlich die Befürchtung aufgestiegen, dass der Boden im Salon, dem schwächsten Teil in der Mitte der Wohnung, durchbrechen könnte (das Haus stammt laut Rudolf Kisch ursprünglich aus dem 14. Jahrhundert). Baba bekam Angst vor dem großen Andrang, der zu erwarten war. So kam ihm – dem Ingenieur – endlich eine Lösung in den Sinn: Er stellte den schweren Eichenholz-Tisch mit der rosa Marmorplatte unter den großen Luster in die Mitte des Salons. Ein schwerer Tisch stellte zweifellos eine kleinere Gefahr als fünfzehn oder zwanzig Leute dar. Ende gut, alles gut. Der Salonboden brach nicht zusammen.
Am nächsten Morgen, Sonntag, fast noch im Morgengrauen, gingen José Manuel und ich den kurzen Weg vom Hotel Elisabeth die Weihburggasse entlang zur Franziskanerkirche, um vor unserem Abflug noch die 8 Uhr Messe zu besuchen. Noch bevor wir den Platz erreichten, bog plötzlich meine liebe Mutti mit meinem Brautstrauß in Händen ums Eck und kam uns entgegen. Es war eine völlige Überraschung. Muttis Augen waren feucht und aus meinen flossen die Tränen, als ich sie umarmte, während sie mir den Brautstrauß überreichte. Wir wechselten kaum ein Wort, begleiteten Mutti zum Tor des Hauses, hielten für sie die schwere dunkelgrüne Türe offen und blickten ihr nach, als sie im Dunkel der Halle verschwand.
Diese Begegnung bleibt für mich einer der schönsten und ergreifendsten Momente der Hochzeit und auch heute noch, wenn ich diese Zeilen schreibe, habe ich das Bild der geliebten Mutter vor mir.