Emy Bertele v. Grenadenberg und Colin Everard
Emy Bertele von Grenadenberg (*Wien 6.3.1932, † Wien 18.12.2023) wurde als das zweite von sieben Kindern der Marceline Mautner v. Markhof und des Hans Bertele v. Grenadenberg geboren. Gemeinsam mit den Eltern und ihren Geschwistern Otto, Marceline „Marcy“ (verehel. McMichael), Hans, Elisabeth „Lisl“ (verehel. Naqvi), Ursula „Ucki“ (verehel. de Allendesalazar) und Ulrich „Uly“ übersiedelte sie 1947 nach England. Am 27.9.1958 heiratete sie den Engländer Colin Everard (*London 14.11.1930) in Nairobi, den sie zuvor im Zug nach Tirol kennengelernt hatte. Ihrer Ehe entsprangen vier Töchter. Nach dem Ableben der Eltern zogen Sie in die „Corti-Wohnung“ im dritten Stock des Franziskanerplatzes, die Wohnung, die einst das Zuhause von Gertrude und Egon Conte Corti gewesen war.
ERINNERUNGEN VON UCKI AN IHRE SCHWESTER EMY, Madrid, 7. März 2025
Ich lernte meine Schwester Emy erst Mitte August 1947 in England kennen, als ich bereits fünfeinhalb Jahre alt war – und sie sechzehn. Bereits vierzehn Tage davor war sie mit unserem Vater dorthin gereist, um ihm bei den letzten Vorbereitungen für die Übersiedlung der ganzen Familie aus Österreich zu helfen (außer dem jüngsten Bruder Uly, der noch in Gaaden bleiben sollte). Sie war das Zweitälteste der Kinder und schon damals ein äußerst verantwortungsvolles Mädchen. Gemeinsam mit Baba (wie wir unseren Vater nannten), stand sie also abends am Bahnhof in London, um uns alle abzuholen. Schwester Liesl und ich hätten dort netterweise gleich für die ersten Wochen von einer Pflegefamilie übernommen werden sollen, um zu Beginn die Last einer vielköpfigen Familie für Mutti etwas zu erleichtern. Liesl nahm die bevorstehende Trennung ohne Murren hin, ich aber brach angesichts einer solchen in Tränen aus und sträubte mich mit Händen und Füssen dagegen. Hatte ich ja meine Eltern und Geschwister erst vor kurzem kennengelernt (ich war die ersten Jahre meines Lebens in Gaaden, bei der lieben Omi, gut aufgehoben gewesen).
So kamen wir nachts in unserem neuen Haus in Purley an. Und damit begann mein Zusammenleben mit Emy, der ich als ihr “Zimmerkind” zugeteilt wurde. Ihr war es gegeben, auf mich aufzupassen und mich zu leiten. Sie war meine „Zimmerfrau“, so hieß es. Wir teilten das hübsche, helle Zimmer im obersten Stock, das Richtung Garten schaute, auf einen großen Zierkirschenbaum, der im Frühling, vollkommen mit weißen Blüten bedeckt, immer so herrlich blühte. Wir hatten die beste Aussicht. Emy betreute mich ab diesem Zeitpunkt mehrere Jahre lang riesig liebevoll und das schmiedete ein Band der immerwährenden Liebe – und Dankbarkeit meinerseits – zwischen uns.
Der Arbeitsaufwand für Mutti war immer enorm, aber Emy stand ihr bei allem großartig bei, was auch wirklich eine ganz bewundernswerte Leistung war. Zirka drei Wochen nach unserer Ankunft begann im September die Schule. Wir vier Mädel gingen alle in dieselbe Klosterschule, St Annes. Emy und Marci in die Grammar School, Liesl und ich in die Primary School. Emy stieg gleich in der dritthöchsten Klasse ein und schloss bereits nach zwei Jahren ihr Studium mit Auszeichnung ab. Danach ging´s mit einem Stipendium am Kings College/London weiter, wo sie ihr Studium mit Zoologie begann, um sich danach auf Entomologie – Insektenkunde – zu spezialisieren (davon noch später).
Im England der Nachkriegsjahre herrschte strenge Rationierung, teilweise bis 1955. Fleisch aßen wir nur einmal in der Woche, am Sonntag. Aus Wien wurden Mutti Paprika geschickt und sie machte öfters ein Kartoffelgulasch und fügte zur Geschmacksverbesserung Speckrindel dazu. Emy machte gerne Guglhupf, immer nur mit einem Ei. Und da es bei uns zu Hause oft etwas zu feiern gab (außer den kirchlichen Festtagen auch die Geburts- und Namenstage einer Großfamilie) zauberte sie trotz der spärlich vorhandenen Zutaten, wie durch ein wahres Wunder, immer irgendwelche Mehlspeisen hervor.
Nach eineinhalb Jahren wurde dann auch der kleine Uly, von einer jungen Steirerin, die als Haushaltshilfe und Kindermädchen dienen sollte, nach England gebracht. Aber sie taugte zu keinem der beiden und verlies uns bald wieder. So blieb die Arbeit für Emy weiterhin groß. Auch im Garten hatte sie ein stattliches Blumenbeet zu betreuen.
Phantastisch beherrschte sie auch die Kunst des Nähens. An nur einem Nachmittag konnte sie ein Kleid für Liesl oder mich fertigen. Etwas, das ich, als ich später selbst zu nähen begann und bei Singer einen Kurs besuchte, nie begreifen konnte. Gut erinnere ich mich an ein hell türkisgrünes Taffetakleid mit Rüschen, das sie für mich anlässlich einer Kinderparty nähte und viele weitere Alltagskleider.
Als Emys Studium am Kings College begann, reiste sie jeden Morgen mit dem Zug nach London und kam am späten Nachmittag zurück. Von einem Teil ihrer ersten Stipendiumsgelder kaufte sie mir einmal ein silbernes Kettenarmband, das ich bis heute besonders schätze und das nun mit lauter kleinen Charms behangen ist.
Als unser ältester Bruder Otto heiratete und auszog, übernahm Emy sein schönes Zimmer mit Zugang auf die große Terrasse, die auf die Rückseite unseres Gartens blickte. Wie alle Zimmer dieses Hauses, welches aus der Viktorianischen Zeit stammte, hatte jedes Zimmer seinen eigenen Kamin. Da die später eingebaute Zentralheizung nicht funktionierte, wurde sonntags im Wohnzimmer der Kamin geheizt. In Küche und Speisezimmer waren Dauerbrenner mit Koks. Für Emys kleinen Kamin holte ich Kohle aus dem Keller, machte Spandeln, schleppte alles hinauf, heizte an und blieb dann auch schön bei der Wärme sitzen, da es oben im Zimmer, das ich nun mit Liesl teilte, kalt und feucht war. In Emys Zimmer war auch ihr Plattenspieler, auf dem ich gerne ihr Schallplatten hörte.
Sehr intensiv widmete sie sich dem Studium der Entomologie. Sie nahm gerne an Studienausflügen teil, war gesellig und schloss nette neue Freundschaften unter den Studenten und sonst wo. In einem Jahr hatte sie mit dem Studium der gefürchteten Wüsten-Riesenheuschrecken (locusts, desert locusts) begonnen, die vor allem in Afrika so verheerende Schäden anrichten. So viel ich mich erinnere, kam Emy einmal am Ende eines der Sommer Trimester, mit einer sehr großen, eher flachen Kartonschachtel nach Hause. Drinnen saß ein einsamer Riesenheuschrecke. Allerdings farblich nicht braun-beige wie das Wüsteninsekt, sondern einfarbiges grün wie das einer unreifen Zitrone. Wir staunten alle. Emy brachte die Schachtel im dunklen Gästezimmer, das gegenüber von meinem Zimmer lag, unter. So fiel es mir zu, das Insekt zu füttern. Da ich bereits zweimal täglich mit der Sichel Gras für unsere Hasen schnitt, bekam der Heuschreck auch etwas davon ab. Sehr lange überlebte er, glaube ich, nicht unter meiner Obhut, an die genauen Umstände kann ich mich nicht mehr erinnern.
Emys Interesse und Vorliebe für Heuschrecken kann man rückblickend als schicksalhaftes Vorzeichen betrachten, da sie ein paar Jahre später Colin Everard, den “Heuschreckenjäger”, wie er bei uns zuhause zur allgemeinen Erheiterung genannt wurde, heiratete.
Ihr Studium am Kings College schloss Emy mit einem “Upper Second”, der zweithöchsten Auszeichnung in der Rangordnung blendend ab. Das bedeutete aber in England keineswegs ein Karriere-Sprungbrett für eine besonders begabte Akademikerin. Was wurde also aus Emy? Sie wurde Sekretärin bei der Londoner Niederlassung von DuPont de Nemours.
Emy war sehr hübsch, hatte schöne Beine von Mutti geerbt und eine gute Figur, die etwas ins Mollige neigte. Sie und Marci waren einige Zeit immer mit Abmagerungskuren beschäftigt. Emy hatte ein helles Lachen, war mit viel Sex-Appeal gesegnet und wirkte auf Männer höchst anziehend. Sie hatte viele “Boyriends” und war selbst einige Zeit sehr in ihren Chef verschossen. Einmal schickten die Eltern Emy und Marci zum Wiener Fasching und Muttis zwei jüngsten Brüder (Peter und Bili) nahmen sich damals sehr nett der beiden an.
Im letzten Jahr, in dem es noch Sitte war, dass Königin Elisabeth die Debütantinnen der Saison empfing, war auch Emy, dank der Befürwortung des damaligen österreichischen Botschafters Johannes Schwarzenberg, der Königin anlässlich des glänzenden traditionellen Ereignisses vorgestellt worden.
Als Emy dann schon bei Dupont war, nahm sie sich einmal im Februar Urlaub, um ihre Freundin Almuth zum Skifahren in Kitzbühel zu treffen. Baba begleitete sie zur Station und kaufte ihr zur Zerstreuung ein paar der klassischen englischen Illustrierten für die Reise. Emy legte sie auf die Sitzbank im Coupée und unterhielt sich mit Baba noch bis kurz vor der Abfahrt draußen am Bahnsteig. Als sie ins Coupée zurückkehrte, saß dort nun einen junger Mann, der eifrig in ihren Illustrierten las: “Wie kommt es, dass Sie sich erlauben, sich einfach meine Zeitschrift anzueignen?” sagte sie in eher schroffem Ton. Emy erhielt ihre Zeitschrift zurück, der Zug fuhr ab und es stellte sich alsbald heraus, dass der junge Mann, der sich als Colin Everard vorstellte, ebenfalls auf Skiurlaub nach Österreich fuhr – und zwar ins benachbarte Fieberbrunn. Dieser Skiurlaub in Kitzbühel sollte gleich den Grundstein für zwei Liebesgeschichten legen, denn zur selben Zeit war auch Onkel Peter Mautner Markhof dort und verliebte sich in Emys bildschöne deutsche Freundin Almuth…
Colin hatte langen Urlaub von seiner Arbeit in Ostafrika und kam uns in Purley besuchen. Er erzählte eingehend von seiner Tätigkeit, die aus der Ausrottung der periodischen einfallenden riesigen Wüstenheuschrecken bestand, die so maßlosen Schaden anrichteten und für Hunger und Elend der Bevölkerung sorgten. Bei allem Ernst, wurde Colin bei uns aber den Namen “der Heuschreckenjäger” nicht mehr los.
Emy und Colin heirateten Ende September 1958 in Nairobi. In ihrer Hochzeitsreise erklommen sie dann gleich den Kilimanjaro. Die erste ihrer vier Töchter kam im darauf folgenden Jahr, zwei Monate verfrüht, in England zur Welt. In einem Spital, welches sich in der Nähe unseres Wohnortes Purley befand. Die “kleine Emy” wog bei ihrer Geburt kaum 11/2 Kilo und blieb lange Zeit im Brutkasten und mit ihr Emy im Spital. Ich ging damals noch zur Schule, und wenn Colin, dessen Eltern in Nord London wohnten, bei uns vorbeikam, viel es mir öfters zu, ihn zu betreuen. Ich bereitete ihm fast immer Bratwürstel, die bekannten „Walls Pork Sausages“, die eine seiner Lieblingsspeisen waren und von mir keine großen Kochkünste erforderten.
Als beide Emys schließlich aus dem Spital entlassen werden konnten, waren sie bald darauf am Weg nach Nairobi, wo Colin sie bereits sehnsüchtig erwartete. Noch drei Mädchen sollten Emy und Colin geschenkt werden, ehe sie Afrika endgültig verließen. Mehrere Jahre Montreal/Canada folgten, bevor sie sich nach Colins Pensionierung am Franziskanerplatz, in der ehemaligen Corti Wohnung, niederließen. Dort, wo Mutti und Baba ihre so schönen und glücklichen letzten zwanzig Jahre verbracht hatten.
Kurz vor Montreal hatten Emy und Colin mich und José Manuel zu Weihnachten in Washington DC besucht. Ihre jüngste Tochter war damals noch ein Baby. Wir hatten es riesig nett zusammen. Im Februar fuhren wir mit einem Greyhound Bus hinauf nach Canada und besuchten sie in ihrer noch provisorischen Wohnung. Die zwei älteren Mädchen verbrachten ihre anschließenden Sommerferien bei uns. Dann, im Jahr drauf, wieder im Februar, fuhren wir erneut nach Montreal, unser letzter Besuch vor José Manuels Versetzung nach Stockholm. Bei diesem Besuch war Emy, wie immer, die liebevollste und fürsorglichste Schwester. Auch die beste Hausfrau, die man sich vorstellen kann. Sie gab für uns ein prachtvolles Diner mit netten, interessanten Freunden. Es war gerade diese Tage recht warm für dortige Verhältnisse. Tauwetter und fast kein Schnee. José Manuel hatte an einem jener Tage beiläufig, eher spaßhaft zu Emy gemeint: “Schade mit dem Wetter. Ich hätte so gerne einen Blizzard (Schneesturm) erlebt.” Am selben Abend, gegen Mitternacht, wir waren schon im Bett und hatten das Licht ausgelöscht, kam Emy im Nachthemd zu uns hereingestürzt und schrie in größter Aufregung: “José, ein Blizzard, ein Blizzard!!!” Und tatsächlich, es war ein wüster, wilder Blizzard, der aber nicht einmal fünf Minuten dauerte. Wir kamen aus dem Lachen nicht heraus und der Augenblick bleibt mir unvergesslich.
Später, als Emy und Colin die Wohnung am Franziskanerplatz bezogen hatten, luden sie uns immer herzlich ein bei ihnen zu wohnen, wenn wir nach Wien kamen. Lauter wunderschöne Erinnerungen, die mich mit meiner lieben Schwester auf immer und ewig verbinden, sind auch damit verbunden.
Colin Everard war ab seinem 24. Lebensjahr für die Leitung von Teams in Nordostafrika zur Bekämpfung von Wüstenheuschreckenplagen verantwortlich. Er arbeitete mit Desert Locust Control am Horn von Afrika sowie in Kenia, dem damaligen Tanganjika (heute Tansania) und in Uganda. Als Einsatzleiter war er für die strategische Planung und Leitung von Kampagnen zur Bekämpfung der riesigen Invasionen von Wüstenheuschrecken verantwortlich, um die Landwirtschaft und Viehzucht der Region zu schützen. Anschließend engagierte ihn die Internationale Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) als technischen Experten, um 75 internationale Flugsicherheitsprojekte in Asien zu beaufsichtigen. Colin wurde dafür mit dem begehrten Gold Award der ICAO ausgezeichnet. Er lebte in sieben Ländern und hatte aus beruflichen Gründen mehr als fünfzig weltweit bereist.
Seine zahlreichen Eindrücke und Erfahrungen hat er in mehreren Büchern verarbeitet – zuletzt in seinem Abschlusswerk „Stories of Other Worlds“, das er seiner geliebten Emy gewidmet hat. Die Buchpräsentation, zu der Freunde und Familie weltweit angereist waren, fand am 23. Jänner 2025 im Vienna Ritz Carlton Hotel statt.
Colin Everard bei der Präsentation seines Buches „Stories of Other Worlds“, 23.1.2025, Ritz Carlton Vienna