Für Marceline Bertele von Grenadenberg – ein Denkmal der besten aller Mütter
Ich glaube, ich kann im Namen aller meiner sechs Geschwister – ob lebend oder schon verschieden – sagen, dass wir die beste und liebste aller Mütter hatten. Mein Geschenk an sie, zum Muttertag 2023, ist es, dass ich versuche ihr mit meinen Worten ein Denkmal zu setzen. Meiner Mutter Marceline, die ihrem Mann und ihren Kinder einfach alles bedeutete. Auch ihrer großen Verwandtschaft war sie stets in Liebe und Großherzigkeit zugetan. Keinen schöneren Wunsch kann ich äußern, als dass ich jedem Ehemann und jedem Kind so eine Gattin und Mutter, wie Marceline wünsche.
Marceline, älteste Tochter von Georg II. Anton Mautner Markhof und Emy Reininghaus, wurde am 3. Mai 1901 geboren. Sie wuchs in Wien/Floridsdorf auf, in der schönen Mautner Villa mit dem großen Garten. Ziemlich früh schon bekam sie eine französische Gouvernante und Erzieherin – Maury genannt. So sprach Marceline auch bald perfekt Französisch. Eine öffentliche Schule hatte sie nie besucht, soweit wir wissen.
Als Marceline noch sehr jung war, hatte einmal die Sorge bestanden, dass sie Schaden an der Lunge hätte, womöglich an Tuberkulose leiden könnte, wie es damals noch sehr häufig der Fall gewesen war. Ihr Vater selbst war mit ihr zur Kur gefahren, ich glaube auf den Semmering, wo sie wieder vollends gesundete. Für ihren Vater empfand Marceline stets höchste Verehrung. Einer ihrer Erinnerungen an ihn war eine gemeinsame Reise nach Venedig, auf die er sie eigens mitgenommen hatte. Mehr als der Zauber der prächtigen Gebäude und die so einmalige Lage, waren ihr der traurige Zerfall, die Dekadenz und Stagnation der Stadt in bedrückender Erinnerung geblieben.
Zu ihren sechs Geschwistern hatte Marceline immer eine äußerst gute und liebevolle Beziehung. Große Achtung empfand sie lebenslang für ihren Bruder Buwa. Selbst später noch, bei heiklen Fragen, die unsere Familie Bertele betrafen, wurde Buwa von ihr befragt und sein Rat befolgt.
Genauso wie ihre Mutter, die mit Leidenschaft Glatthaar-Foxterrier züchtete und zu Ausstellungen nahm, hatte Marceline eine Vorliebe für Hunde. Später wurde aus ihr auch eine begeisterte Reiterin. Sie besaß eine schöne fuchsfarbene Stute, die sie Goldie nannte. Mit ihr ritt sie kreuz und quer übers Überschwemmungsgebiet und auf den Bisamberg.
Sie hatte es nicht eilig zu heiraten. Sie liebte das traute Familienleben in Floridsdorf und die Sommermonaten, die die Familie in Baden, in einer der schönen Villen in der damaligen Berggasse (jetzt Marchetstrasse) ich glaube Nr. 72, verbrachte – und ihre Passion galt zu diesem Zeitpunkt ja auch noch den Pferden. Einmal war sie schwer gestürzt, Goldie war aus irgendeinem Grund durchgegangen. Besorgniserregend lange war sie daraufhin mit einer Gehirnerschütterung bewusstlos gewesen; als sie sich wieder erholt hatte, ritt sie fröhlich weiter.
Den Beginn der großen Liebe meiner Eltern habe ich bereits geschildert. Im darauffolgenden Herbst hatten beide viele schöne Streifzüge miteinander unternommen. Marceline hatte immer gutes Hausbrot mit Schinkenbelag dabei, das Hans, der zu jeder Zeit Appetit hatte, mit großer Wonne verzehrte. An einem dieser wundersamen Herbsttage spazierte das Paar in der Au von Spillern und von dort hinauf zur märchenhaften Burg Kreuzenstein bei Korneuburg. Dort sprachen sie sich zuerst über die Zukunft aus, dann über eine gute Art des Zusammenlebens. An diesem Nachmittag verlobten sie sich. Beim Verabschieden sagte Marceline laut und bestimmt: „Guten Abend – alles ist sehr gut aber ich will viele Kinder.“ Worauf Hans ebenso bestimmt antwortete: „Ich auch, gute Nacht!“ Bald danach machte Hans den offiziellen Antragsbesuch bei Marcelines Vater in Floridsdorf. Georg Anton empfing ihn sehr nett und meinte zum Schluss: „Merk Dir, die Ehe ist ein Kunstwerk, an dem man sein ganzes Leben baut, einmal schwer der eine, einmal schwer der andere.“ Worte, die er bereits auch seiner Tochter eingeschärft hatte. Da Hans und Marceline bereits verlobt waren, stellte sich bei ihr das Verlangen ein, sobald wie möglich auch ihren zukünftigen Schwiegervater kennenzulernen, um feststellen zu können, dass er weder glatzköpfig sei noch Brillen trug. Zwar war Hans´ Vater von kleingewachsener Statur, aber in den beiden Punkten, auf die Marceline so großen Wert legte, entsprach er völlig ihrem Wunsch: keine Glatze und keine Brillen, obwohl er bereits im einundsiebzigsten Lebensjahr war. Die Hochzeit fand am 19. April 1928 in Floridsdorf statt. Leider kann ich darüber nichts berichten. Ich habe nur das Glück, die Menükarte meines Großvaters zu besitzen. Auf ihr befindet sich ein wunderschönes Foto vom glücklichen jungen Paar.
Auszug aus den Memoiren von Hans von Bertele
Am 19. April 1928 war unsere Hochzeit; die kirchliche Trauung fand in der kleinen Pfarrkirche in Jedlersee statt; Marceline und ich fuhren mit dem Mautner’schen Pferdewagen hin und zurück. Dann gab es ein feierliches, grosses Hochzeitsessen im schönen Haus Floridsdorf, Pragerstrasse 20; nachher wurde alle Gäste vor dem Haus auf der Stiege – freundlich gruppiert – fotographiert. Das Wetter war nicht sehr schön, sondern kühl und bewölkt; leider blühten die schönen Magnolien hinter dem Haus im Park noch nicht. Dann fuhren wir mit dem Auto auf den Semmering, blieben dort ein oder zwei Tage und von dort begann die eigentliche Hochzeitsreise mit dem Zug. Der Schwiegervater hatte eine schöne Seefahrt auf dem Schiff Ozeania (ca. 4000 Tonnen) für uns vorbereitet. Wir fuhren nach Genua mit dem Schlafwagen; beim Einsteigen am Semmering fiel der Mutti meine kleine Reisetasche auf den Kopf, aber das störte die freundliche Stimmung nicht. Mit dem Schiff fuhren wir von Genua über Korsika, über Palma de Mallorca, Málaga mit einem kleinen Ausflug nach Granada, über Gibraltar, über Lissabon in Portugal, und die Isle of Wight nach Hamburg; in Hamburg stiegen wir in den Vier-Jahreszeiten ab, hatten dort ein gutes Essen im Uhlenhorster Fährhaus, fuhren nach Magdeburg zu einem kurzen Besuch zu den Baensch und zurück nach Wien. Die nächsten Monate wohnten wir im Stöckl in Floridsdorf; inzwischen versuchte Marceline mit ihrer Mutter eine Wohnung in Wien zu finden, denn damals war das Wohnungfinden in Wien gar nicht leicht. Marceline hatte von vornherein die vernünftige Ansicht, die Wohnung sollte nicht weit von meinem Arbeitsplatz – der Elin – Volksgartenstrasse 1 – sein.
Zwei Jahre nach der Hochzeit war dann der kleine Otto erschienen. Marceline wurde ein großer Kindersegen beschert, genauso wie sie es sich es erträumt hatte. Ihr Mann, Hans, war begeisterter Bergsteiger. Nachdem jedoch zwei seiner Kameraden abgestürzt oder sonst wie auf den Bergen verunglückt waren und er schon drei Kinder gezeugt hatte, gab er dieses Hobby auf. Wahrscheinlich hatte Marcelines tatkräftiges Bitten dabei den wesentlich Ausschlag gegeben. Neun Monate nach seiner letzten großen Bergtour wurde der kleine Hansi geboren. In ihn setzte Vater dann die größten Hoffnungen, dass er einmal eine brillante Karriere machen würde.
Die ersten Jahre ihrer Ehe verbrachten Marceline und Hans in der Lackierergasse im 9. Wiener Bezirk.
Auszug aus den Memoiren von Hans von Bertele
Mit einiger Mühe fanden Marceline und ihre Mutter eine schöne Wohnung in der Lackierergasse/Ecke Garnisongasse; gegenüber war nur ein stockhohes Arbeitsgebäude des Allgemeinen Krankenhauses. Die verschiedenen Zimmer der Wohnung waren daher von Morgen bis zum Abend besonnt, da die Wohnung um das Eck ging. Eine sehr schöne Einrichtung für diese Wohnung wurde vom Schwiegervater beim Architekten Wimmer bestellt. Vor Weihnachten zogen wir ein; es war lange noch nicht fertig, obwohl Marceline gesagt hatte: „Ich zieh’ erst ein, wenn das Handtuch auf dem letzten Haken hängt!“ Wir hatten aber Betten und einen Esstisch, etwas Material in der Küche und allmählich wurde dann die Wohnung, so wie auf den Bildern dargestellt ist.
In meinem Buch Das Haus am Froschplatz, eine Wiener Geschichte – etwas auf Roman aufgeputzt – schildere ich, wie sie danach eine Villa mit schönem großen Garten im 19. Bezirk, die zwangsversteigert werden sollte, kaufen wollten. Marceline war diese Idee – der Kinder wegen – besonders lieb. Ihr Vater jedoch bat das junge Ehepaar es nicht zu tun: Hans hatte bei Elin zwar ein gutes Einkommen, aber man hätte dafür scheinbar auch Fonds oder Anteile der Brauerei liquidieren müssen. Die Zeiten und die allgemeine finanzielle Lage hatten begonnen immer schwieriger zu werden. Meine Eltern erfüllten Georg Antons Bitte und nahmen vom Kauf Abstand.
Hans, der junge Ingenieur, hatte sich bei der Elin rasch einen guten Namen gemacht. Und wo einer Erfolg hat, stehen Neider meist gleich um die Ecke. Beim großen Durcheinander nach dem Anschluss Österreichs wurde er von denjenigen, die ihm seinen guten Ruf und Erfolg nicht gönnten, rasch auf eine mindere, seinen Qualifikationen in keiner Weise entsprechenden Position geschoben. Doch bei Siemens in Berlin war man bereits auf ihn aufmerksam geworden und so konnte er bereits im September 1938 eine adäquate Stelle im riesigen Konzern antreten.
Die Familie Bertele, mit bereits vier Kindern, war also im September 1938 nach Berlin übersiedelt, wo die bereits schwangere Marceline im März 1939 Tochter Elizabeth zur Welt brachte. Hans hatte eine sehr gute Position bei Siemens und die ersten Kriegsjahre verliefen für Deutschland gut und siegreich. Bald nach der Ankunft war es ihm gelungen, ein schönes Haus mit Garten in Schmargendorf zu erwerben, so hatte die Familie ein recht angenehmes Leben. Marcelines Schwester Charlotte, verheiratet mit dem feschen aus Ostpreußen stammenden Georg Günther, war ebenfalls in Berlin ansässig. Die kleine Elizabeth, Liest genannt, hatte ein Kindermädchen, die Lena. Als Liesl einmal auf allen Vieren im Garten herumkroch, in der Erde wühlte und dann die Finger in den Mund steckte, meinte Lena gelassen: „Dreck scheuert den Magen”, ein Ausspruch, den Marceline späterhin immer gerne verwendete.
Am 7. Dezember 1941 wurde ich, die kleine Ursula, geboren. Ein glücklicher Tag für mich und die Familie aber verhängnisvoll für Deutschland, da nach dem Tag der Bombardierung der Japaner von Pearl Harbor die USA in den Krieg eintraten. Eine entscheidende Wende hatte begonnen, welche schließlich zur Niederlage Deutschlands führen sollte.
Auszug aus den Memoiren von Hans von Bertele
Im Winter 1941 begann das Bomben in Berlin, zunächst mit Brandbomben; einmal gab es einen Einschlag in unseren Luftschutzkeller durch die Türe vom kleinen Hof; Mutti war erstaunlich ruhig und hat gleich mit der Schaufel aus der Sandkiste Sand auf die zischende Bombe draufgestreut. Als ich darüber meine Verwunderung aussprach, sagte sie ruhig: „So haben wir’s doch in den Vorbereitungen gelernt“, was mir grossen Eindruck machte. Bald darauf geht Marceline sicherheitshalber nach Feldenhofen, als ich ihr dazu geraten hatte mit der Bemerkung: „Geh’ ruhig hin, haben wir den ersten Weltkrieg gut in Feldenhofen überstanden, werden wir es in dem zweiten auch tun“.
In der Familie Bertele wurden schwerwiegende Entscheidungen getroffen: Hans entschloss sich bei Siemens zu bleiben und dachte, dass es für Marceline und die Kinder das Beste und Sicherste wäre ins Gut Feldenhofen, das seiner Mutter gehörte, zu übersiedeln. Feldenhofen, ein Besitz von zirka zweihundert Hektar, hauptsächlich Waldbestand, befand sich in der Südsteiermark, welche nach dem Ersten Weltkrieg an das neugegründete Jugoslawien abgetreten werden musste. Diese Übersiedlung aber würde ohne der deutschen Kinderschwester Lena vor sich gehen müssen. Kurzum, Lena wurde entweder entlassen oder verließ die Familie auf eigenen Wunsch. Zwar gebar Marceline freudig Kinder aber außer sie zu stillen, hatte sie keine Idee wie man ansonsten einen Säugling zu betreuen hatte. Diese Aufgabe hatten immer die jeweiligen Kinderschwestern übernommen. Nun aber wurde die arme kleine Ursula rachitisch und litt fortwährend unter Durchfall. So fasste man den Entschluss sie nicht nach Feldenhofen mitzunehmen, sondern schickte sie stattdessen zur Omi (Marcelines Mutter Emy) nach Gaaden, wo sie höchst liebevoll aufgenommen und in die kundigen Hände der guten Nana übergegeben wurde.
Also zog Marceline mit nur fünf Kindern ab nach Feldenhofen, welches in der Nähe der Stadt Windischgraz, jetzt Slovenj Gradec, gelegen war. Anfangs konnte Marceline dort noch ein friedliches und unbekümmertes Leben genießen und die Kinder konnten überall frei und unbeschwert herumtoben. Dann kam 1945.
Nach einer abenteuerlichen Reise, die in seinen Memoiren detailliert beschrieben ist, traf Hans erst im September in Jugoslawien ein und musste mit dem Schrecken erfahren, dass seine Frau und die Kinder in einem Lager bei Cilli von den Tito-Partisanen gefangen gehalten wurden. Typhus und Hunger herrschten dort. Es war ein wahres Wunder, dass Marceline und alle fünf Kinder überlebten. Hans, der die dem Russischen sehr ähnliche slowenische Sprache beherrschte, konnte sich mit der Kommissärin des Lagers verständigen und gab ihr den Englischunterricht, den sie von ihm als Gegenleistung für eine Gefälligkeit begehrte. So konnte er die Freilassung von Marceline und seinen Kindern „erarbeiten“. Die Lagerkommissärin konnte ihre frisch erworbenen Englischkenntnisse nicht mehr verwerten, kurz danach hatte sie sich erschossen. Aber Gott und ihr zu Dank war die Familie wieder auf freiem Fuß.
Man fuhr zurück nach Feldenhofen. Gutgesinnte Nachbarn und ehemaliges Dienstvolk aber rieten unbedingt zum raschen Verlassen von Slowenien. Schweren Herzens brach die Familie schließlich gleich nach Weihnachten, am Stefanitag 1945 wieder auf und schlich sich über einen Schmuggelpfad, den Hans kannte davon. Ein Grenzbach, an dem andauernd patrouilliert wurde, musste überquert werden. Alles verlief ohne Hindernis. Angelangt auf der Anhöhe, am Ufer auf der österreichischen Seite, bestens sichtbar von der slowenischen Seite aus, blieb Marceline stehen und rief höchst erleichtert laut aus: „Na, wenn ich gewusst hätte, dass es so leicht vor sich gehen würde, hätt´ ich noch mehr Zeugs mitnehmen können!” Wäre in diesem Augenblich die Patrouille plötzlich erschienen, hätten sie alle erschossen. Wenig hätte es gegolten, dass sie sich schon jenseits des Grenzbaches befunden hatten.
Die Familie wurde freundlich von Onkel Harald Reininghaus, Omis Halbbruder, in Schloss Isenrode (Steiermark) aufgenommen. Im Februar 1947 wurde der kleine Nachzügler, der Uly geboren. Als bei Marceline die Wehen einsetzten, wurde sie durch den hohen Schnee per Schlitten nach Graz in die Klinik gebracht.
Im August 1947 ging es für die Familie Bertele weiter nach England, wo Hans mit einem englischen Bekannten eine Elektrogesellschaft gegründet hatte.
Ursula, das Gaadner Kind, lernte erst kurz vor der Abreise ihre Eltern kennen. Bis dahin hatte sie immerhin einmal eine Postkarte von ihrer Mutti bekommen, mit zwei Rehen in einem tief verschneiten Wald, die sie jetzt noch lieb in ihrem Besitz bewahrt. Nun wurde sie von Nana vom Haus am Berg den Hang hinabgeschickt, wo ein Pfad ins Dorf führte: „Die zwei Leute, die Du den Hang hinaufkommen sehen wirst, das sind Deine Eltern. Lauf hinunter und begrüße sie schön.”
Was sich dabei alles abspielte, wäre eine Geschichte für sich. Dann erblickte ich sie zum ersten Mal. Mit ihren Wanderschuhen, kurzen Socken, jeder mit einem Rucksack auf dem Rücken kamen sie mir entgegen. Sie zählten damals 46 (Marceline) und 44 (Hans) Jahre und kamen mir furchtbar alt vor. Vor allem die liebe Mutti wegen ihrer weißblonden Haare. In dem Zusammenhang ist es interessant, dass ich mir nie zuvor solche Gedanken wegen des Alters gemacht hatte. Sowohl die Omi wie die Nana waren für mich einfach zeitlos gewesen.
Ein paar Wochen später wurde ich nun mit nach England genommen und das neue Baby, der Uly, Jolly genannt, um ihn vom Günther-Uly (Sohn von Marcelines Schwester Charlotte) unterscheiden zu können, wurde bei Omi in Gaaden gelassen und in Nanas Obhut gegeben. Ein Kindertausch, sozusagen.
Die zwölf Jahre, die wir daraufhin in England verbrachten, waren für Mutti, wie ich sie fortan nennen werde, wohl die schwersten ihres ganzen Lebens gewesen. Baba (so wollte Hans von uns Kindern genannt werden) hatte mit einem Vorschuss von der neu gegründeten Elektrogesellschaft ein schönes Haus mit großem Garten gekauft, welches Mutti sehr gefiel. Aber die Arbeit dort war für sie unermesslich schwer, vor allem das Wäschewaschen, denn es gab keine Waschmaschine. Die Weißwäsche kochte sie in einem großen elektrisch angetrieben Kessel, der sich unten in einem Raum neben der Küche befand, welcher als Waschküche und allgemeiner Abstellraum für Gartenwerkzeuge und Sonstiges diente. Danach musste sie die Wäsche dann per Hand schwemmen und auswinden. In den Schulferien halfen wir vier Mädel mit und hängten sie dann oben am Tennisplatz an der Wäscheleine auf. Sonst machte Mutti alles ganz alleine. Bei dem häufigen englischen Regen musste die Wäsche jedoch immer wieder rasch hineingeholt und bei nächster Gelegenheit dann wieder aufgehängt werden. Im Haus war keine Möglichkeit vorhanden sie zu trocknen. Meine älteste Schwester Emy war Mutti eine sehr große Hilfe. Als wir nach England übersiedelten, war sie sechzehn Jahre alt. Sie half beim Kochen und nähte Kleider für Liesl und mich. Marci, die zweitälteste, half mit dem Bügeln und draußen im Garten, oblag ihr auch das Zurückschneiden der Hecke. Bei mehr als einem halben Hektar Größe war das keine leichte Arbeit. Liesl und später auch ich, wurden zum Stopfen der Socken eingespannt, von denen es mehr als genug gab. Ebenso wurden wir beide mit dem Geschirrabwaschen beauftragt. Am Wochenende mussten alle Kinder im Garten mithelfen. Er war auf einem ziemlich steilen Hang gelegen. Das Haus befand sich in seinem unteren Drittel. Mutti hatte sich ganz oben einen Gemüsegarten anlegen lassen. Otto und Hansi stachen die Beete für sie um. Dort oben hatte Mutti auch ihre Hühner und wir hatten Hasen, die unsere Schwester Marci betreute. Zirka ab 1955 hatten wir dann eine Waschmaschine, die aber nicht schleuderte. Dafür gab es ein „Auswindegerät“, das am Waschbecken befestigt war und per Hand in Gang gesetzt werden musste. Mit der Zeit leistete Baba sich auch ein Auto. Das erste wurde schon sehr bald von meiner Schwester Marci über den Haufen gefahren. Ich, damals 14 Jahre alt, war Copilot, was niemand wissen durfte! Um sich ein neues leisten zu können, verkaufte Baba dann seine wertvollste Uhr.
Wir vier Mädchen besuchten alle dieselbe Klosterschule, die beides – Volks- und Mittelschule unterrichtete. Mutti erzählte mir einmal, dass die Schulvorsteherin, Nonne Mother Mary John, ihr bei ihrem ersten Besuch von einem Traum erzählt hatte: Eine Familie aus dem verwüsteten Zentraleuropa würde nach England kommen und die Eltern sie um Aufnahme ihrer vier Mädchen in der Schule bitten. Sie solle sie alle aufnehmen, wurde ihr im Traum gesagt – was sie auch herzlich getan hat. Selbstredend, so meine ich ist, dass den Eltern dadurch in dieser ausgezeichneten Privatschule keine großen Kosten auferlegt wurden. Mutti sagte manchmal auf ihre ihr ganz eigene Art: „Ich bin nicht fromm”, womit sie scheinbar nur meinte, dass sie nicht jeden Sonntag in die Kirche ging. Aber anlässlich des Traumes der lieben Nonne dachte sie doch, dass es sich um ein wunderbare Fügung Gottes handelte. Mother Mary John war aus einem belgischen Orden, so musste sich Mutti mit ihr in Französisch verständigt haben, denn sie sprach kein Englisch.
Das Schönste für uns Kinder war das Mutti immer für uns da war. Sie war sozusagen immer für uns zuhause. In der Früh war sie da, machte das Frühstück für uns, nahm es mit uns ein. Als wir von der Schule kamen, machte sie uns die Jause. Als wir Jüngsten der Familie dann schon selbstständiger waren, bereiteten wir uns die Jause zwar selbst, liefen aber zuerst hinauf in den Garten, um Mutti, die im Gemüsegarten oder mit ihren Hühnern beschäftigt war, zu begrüßen.
Welch´ traurigen Gegensatz dazu bieten Mütter heutzutage, die auch ohne es nötig zu haben untertags nur weg von zuhause irgendwo arbeiten wollen. Das Resultat ist ein hinkendes, oftmals zerrüttetes Familienleben und – oft gar keines mehr. Jeder nur für sich…
Mutti bedachte jeden von uns immer mit den unterschiedlichsten liebevollen und besonderen Aufmerksamkeiten. Ich erwähne hier nur diejenigen, die sie mir zudachte und die ich so dankbar in Erinnerung behalten habe: Natürlich hatte ich zu Beginn kein Wort Englisch gesprochen. Mutti, obwohl sie mit Arbeit überhäuft war, kaufte mir eigens ein großes Bilderbuch, das von einem kleinen Buben in Mexiko handelte. Am großen Tisch in der Küche saßen wir dann an den Abenden zusammen, ich auf Muttis Schoss und sie las mir daraus vor: „Pedro was a little boy…” Da war das Bild mit Pedro und einem bepackten Esel neben einem Kaktus. Und ich las stockend nach. Als ich elf Jahre alt war, arrangierte Mutti für mich einen Austausch mit der befreundeten Gustav Harmer-Familie. Der jüngere Sohn, Conrad, gleich alt wie mein Bruder Hansi, kam einen Monat zu uns nach England und ich konnte den ganzen Monat Juli bei Harmers, anfangs in Ottakring dann hauptsächlich draußen in Spillern verbringen. Die jüngste Tochter, Mette, war in meinem Alter. Alles für mich so schön arrangiert, von der lieben Mutti. Im Jahr 1956 fand in London eine berühmt gewordene Konzertaufführung von Don Giovanni in der Royal Festival Hall statt. Unser Verwandter, Eberhard Wächter, sang den Don Giovanni. Auch besonders war für mich, als Mutti mich zu Cavallería Rusticana und I Pagliacci mit in die Oper nach Covent Garden nahm. Und viel später dann, wenn wir nach Wien auf Besuch kamen, stand in unserem Zimmer immer ein Zyklamen-Stock zur Begrüßung…
Eineinhalb Jahre nach unserer Übersiedlung nach England wurde uns zu Muttis großer Freude der kleine Jolly geschickt. Ihr kleines Nesthäkchen. Er wurde uns gemeinsam mit einem Steirermädel übersandt, das teils als Kindermädchen für ihn und teils als allgemeine Haushaltshilfe für Mutti dienen sollte. Sie taugte weder für das eine noch das andere und verließ uns bereits nach einem Jahr.
Ein paar Jahre danach waren für Baba äußerst schwierige Zeiten herangebrochen und es begannen unangenehme Jahre in England. Ausgangspunkt war ein arges Zerwürfnis mit seinem englischen Gesellschafter, der ihn fälschlich wegen Betrug anklagte. Fern der Heimat schien sich damals alles gegen ihn zu wenden. Er wusste nicht mehr ein noch aus und war nahe daran den Kampf aufzugeben. Mutti jedoch ermutigte ihn: „Hans, kämpfe bis zum Schluss. Nur dann habe ich vollen Respekt vor Dir. Riskieren wir, was du im schlimmsten Fall für möglich hältst.” Die Angelegenheit klärte sich zu seinen Gunsten aber natürlich auch mit seinem Austritt aus der Firma.
Österreich war damals noch von den Alliierten besetzt gewesen. Wien teilweise, Niederösterreich aber vollständig von den Russen. Die Eltern zogen es daher vor mit der Familie weiterhin in England zu bleiben. Mit seinem beruflichen Neuanfang als beratender Ingenieur hatte Hans zu wenig Aufträge und nahm dann dankbar die Stelle eines Lektors bei Woolwich Polytechnic an. Die Vorlesungen dauerten oft bis spät in den Abend hinein und so kam er todmüde und abgerackert mit dem Zug aus London. Jeden Abend machte sich Mutti auf den Weg um ihn von der Station abzuholen. Zwar wohnten wir nur zehn Minuten entfernt, doch der Weg dorthin war eher gruselig. Man musste an einem steilen unbeleuchteten Felsabfall der North Downs entlanggehen, der gegenüber der breitangelegten Schienenanlage, den Ausweichstellen für die Züge und einem Kohlengrosshändler lag. So ging es noch einige Jahre dahin, bis endlich die gute Nachricht eintraf, dass Baba zum Ordentlichen Professor für Industrielle Elektronik an der Technischen Hochschule in Wien ernannt worden war. Die Freude mit der Mutti diese Nachricht empfing, war unbeschreiblich. Als sie England verließ und auf dem Boot nach Ostende an Deck stand, sagte sie: „Gott sei Dank. Nun bin ich endlich kein elender Ausländer mehr!” Das Schöne an England, so wie sie meinte, war gewesen, dass sie immer ganz und gar für ihren Mann und ihre Kinder da sein konnte. Ansonsten war ihr alles fremd geblieben. Die Sprache lernte sie nur recht mangelhaft zu beherrschen und ihr Akzent war stark geblieben. Auch hatte sie keine Freundinnen gefunden. Zwar gab es bei uns zu Hause immer ein reges Gesellschaftsleben mit häufigen Mittag- und Abendessen an den Wochenenden, aber alle die kamen waren Freunde und Bekannte vom Baba.
In Wien zogen die Eltern in die schöne große Wohnung am Franziskanerplatz ein. Dort konnten beide noch etwas über zwanzig glückliche Jahre verbringen. Ständig gab es Besuch von Kindern und Enkelkindern und sie waren von netten Dienstboten umgeben. Es wurden unentwegt muntere und interessante Mittag- und Abendessen für Muttis Großfamilie (von der Bertele-Familie war Hans der letzte Nachkomme) und den großen Freundeskreis veranstaltet. Auch an der Hochschule gab es oft Veranstaltungen, zu denen auch die Damen gebeten waren. Marceline war immer mächtig stolz auf alle Ehrungen, die ihrem Hans zuteil wurden. Zuhause gab man schöne Kammermusik-Abende, an denen Hans am Klavier, begleitet von zwei Geigen spielenden Freunden musizierte. Das ganze Jahr hindurch liebte es Hans vor oder nach dem Abendessen, auf dem schönen großen Bösendorfer Flügel, den ihm Marceline zur Hochzeit zum Geschenk gemacht hatte, zu spielen. Marceline saß dabei, im Salon au coin du feu – ob der Kamin nun angezündet war, oder nicht. Und in den Pausen seines Spiels pflegte sie zu sagen: „Sehr schön, Herr Mandi“ (ihr Kosename für Hans).
In großer Liebe und Dankbarkeit, deine Tochter Ucki