Ursula Bertele von Grenadenberg Mautner von Markhof de Allendesalazar, schlichtweg „Ucki“, wie die liebenswürdige, bescheidene, lebens- und reiselustige Dame seit ihrer Kindheit von Familie und Freunden genannt wird, wurde als das sechste von sieben Kindern der Marceline Mautner v. Markhof und des Hans Bertele v. Grenadenberg am 7.12.1941 in Berlin geboren. Aufgrund der Kriegswirren wuchs sie die ersten Jahre bei ihrer Großmutter Emilie „Emy“ Mautner v. Markhof unter der Obhut des Kindermädchens Nana in Gaaden auf, bevor sie im August 1947 mit ihren Eltern nach England emigrierte, wo sie den Rest ihrer Kindheit und Jugend verbrachte. 1960 übersiedelte die Familie zurück nach Wien, wo sie den Familiensitz von Adolf Ignaz am Franziskanerplatz bezog. Nachdem sie im Dezember 1965 ihren spanischen Mann geehelicht hatte, begannen für sie viele Jahrzehnte des Reisens, die sie als Diplomatengattin in verschiedene Länder führten. Immer interessiert an den unterschiedlichsten Themen, verfasste sie über die Jahre hinweg vier Bücher in vier Sprachen. Ucki lebt seit dem Ableben ihres Mannes im Jahr 2008 vorwiegend in Madrid und Sepúlveda/Spanien. In der Folge erzählt Ucki über José Manuel und ihr gemeinsames Leben.
Es bereitet mir Freude, dass man mich gebeten hat über das Leben meines Mannes – und so auch zu einem Teil über das meine – zu berichten. Doch stelle ich fest, dass es keine leichte Aufgabe ist, das genau richtige Maß zwischen Zärtlichkeit und Sachlichkeit zu treffen.
José Manuel stammte von einer alteingesessenen Familie aus Guernica im Baskenland ab. Sein Großvater, Manuel Allendesalazar Muñoz de Salazar (1856 – 1923) war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein bedeutender Politiker und mehrfacher Minister sowie zweimaliger Ministerpräsident konservativer Regierungen gewesen. Sein Vater Andrés Allendesalazar, mit fast fünfzig Jahren bereits verwitwet und mit zwei Kindern gesegnet, heiratete ein weiteres Mal und so erblickte José Manuel noch knapp vor Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges, am 3.3.1935, das Licht der Welt. Kurz darauf gelangte sein Vater in die Gefangenschaft der Republikaner. José Manuel überlebte, im Garten des etwas entlegenen Familienbesitzes und unter dem zusätzlichen Schutz des Leibes seiner Mutter Carmen Loyzaga die Bombardierung von Guernica, die am 26. April 1937 stattfand. Noch vor Ende des Bürgerkriegs entkam sein Vater der Gefangenschaft und die Familie übersiedelte vorläufig nach Sevilla.
Als sich das Leben im verwüsteten Spanien dann langsam zusehends beruhigt hatte, nahm die Familie wieder ihren gewohnten Lebensrhythmus auf: die Sommer wurden in Guernica verbracht, der Rest des Jahres in Madrid. José Manuel wurde von einem Hauslehrer privat unterrichtet. Ein paar Jahre später übersiedelte man von Madrid nach San Sebastián. Eine von José Manuels schönsten Erinnerungen war es, von der Wohnung, welche direkt an einer Anhöhe oberhalb der herrlichen Bucht von San Sebastián lag, auf den berühmten Strand La Concha zu blicken. Trotz seiner Vorliebe für diese Wohnung, in der er sogar ein ganzes Zimmer, in dem er seine Zinnsoldaten-Sammlung aufstellen konnte, für sich alleine hatte, kam bereits dem elfjährigen Buben das allzu sehr verhätschelte Leben mit den so lieben aber ihm uralt vorkommenden Eltern und dem Hauslehrer zu eingeschränkt vor. Er wollte unbedingt wie alle Gleichaltrigen eine Schule besuchen. Nur mit Mühe konnte er dies durchsetzen. Und so begann für ihn ein neues Leben: im Jesuiten Gymnasium in San Sebastián. Zwar hatte er damit einen großen Sieg errungen, doch zu seinem ebenso großen Leidwesen zog die Familie daraufhin in eine andere Wohnung in der Innenstadt. 1952, nach bestandener Matura übersiedelte die Familie nach Madrid, da sich José Manuel für das fünfjährige Jus Studium entschieden hatte. Die drei Sommermonate wurden wie immer in Guernica verbracht, aber José Manuel zog es bereits damals auch in die Ferne. In Frankreich bereiste er Pau, La Rochelle und Paris um seine Sprachkenntnisse zu verbessern, später aus demselben Grund auch London und Dublin. Da er sich dazu entschlossen nach der Beendigung der Universität Diplomat zu werden, standen ihm eine Reihe sehr heftiger Prüfungen bevor, deren wichtiger Bestandteil auch Fremdsprachen waren.
Den Entschluss Diplomat zu werden hatte er nicht leicht gefasst, denn aufgrund seiner Liebe zu den Zinnsoldaten hätte er am liebsten eine Offizierslaufbahn eingeschlagen. Nur sehr langsam war er von dieser Idee abgekommen. Ab seinem 21. Lebensjahr absolvierte er zwei ganze Sommer hindurch seinen Militärdienst, da der Dienst für Studenten vorzugsweise auf 6 Monate beschränkt war. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Jus Studiums begann das Büffeln für die Staatsprüfung zur Aufnahme in die Diplomatische Akademie. Für die bevorstehende Prüfung des Jahres 1959 fand er sich genügend vorbereitet und trat – als einer von hunderten Anwärtern, die sich für ca. zwanzig Stellen beworben hatten – an. Er bestand nicht. Glücklicherweise für mich, wie sich ein wenig später herausstellen sollte. Doch diese Prüfung des Jahrgangs 1959 hatte auch verhängnisvolle Folgen. Mehrere der zwanzig aufgenommenen Kandidaten waren völlig unzulänglich vorbereitet gewesen und nur als Söhne oder Neffen von dem einen oder anderen Minister oder sonstiger einflussreicher Persönlichkeit durch Protektion durchgekommen. Es gab einen Skandal und als Franco davon erfuhr, geriet er in solche Wut, dass er die diesbezügliche Staatsprüfung einfach auf „unbestimmte“ Zeit einstellen ließ. Auf unbestimmte Zeit? Auf ganze vier Jahre! Die armseligen, hoffnungsvollen Kandidaten bereiteten sich jedes darauffolgende Jahr wiederholt auf diese Prüfung vor, die dann aber doch nicht stattgefunden hatte. José Manuels Eltern wollten ihm in dieser Zeit dazu verhelfen in einer der großen Banken von Bilbao unterzukommen, aber ihm war es aus eigener Kraft gelungen, eine Stellung in der Staatsverwaltung zu erlangen. Trotzdem studierte er immer brav weiter und nahm nun auch selbst Schüler auf. 1963 endlich wurde die so heiß ersehnte Staatsprüfung wieder angekündigt und José Manuel wurde mit dem zweitbesten Notendurchschnitt aufgenommen. Nach diesem Erfolg konnte der Sommer überglücklich mit endlosen Feiern begonnen werden und José Manuel kreiste munter mit seinem kleinen alten Seat 600 (spanischer Fiat), den er sich von seinen Ersparnissen nach neu erworbenem Führerschein gekauft hatte, durch die Gegend. Ende August hatte er zwei von seinen frisch gebackenen Diplomaten-Kollegen auf ein paar Tage nach Guernica eingeladen. Einer von ihnen schlug vor: “Fahren wir doch nach Santander. Dort, bei der dafür bekannten Sommeruniversität für Ausländer ist es recht lustig mit Schwedinnen und sonstigen hübschen jungen Mädchen anzubandeln.” “Setzt mich in Santander ab und versucht ihr zwei nur euer Glück,” meinte dazu einer der beiden Freunde, der ja von dort stammte.
Zu diesem Zeitpunkt war ich, gemeinsam mit einer Wiener Freundin, gerade für zwei Monate bei besagter Universität gelandet und entsprechend eines der hübschen Mädchen zum „Anbandeln“. Wir beide hatten am Dolmetsch Institut der Wiener Philosophischen Fakultät inskribiert und es noch nicht sehr weit gebracht. Bei den für uns verpflichtenden Philosophie Vorlesungen, begegnete ich manchmal auch meinem Onkel „Buwa“ Georg III. MM, der damals gerade seinen dritten Doktor machte. Besagte Freundin besaß einen kleinen roten Volkswagen, in dem wir Ende Juni 1963 munter “ins Blaue“ abfuhren. Doch nicht zu einem immer blauen spanischen Himmel, wie sich herausstellen sollte. Den ganzen Sommer hindurch regnete es fast ununterbrochen. Ich hatte ab August in eine private Unterkunft abseits der Universitätsherberge gewechselt, pflegte aber weiterhin netten Kontakt mit vielen der dortigen Studentinnen und besuchte sie noch öfters in der Herberge auf der kleinen Insel, untergebracht in den früheren königlichen Stallungen des ganz nahe gelegenen Schlosses. Trotz des Regens – hatte mich meine Jugend in England diesbezüglich ja abgehärtet – ging ich dort auch oft schwimmen. So auch am 23. August, als mich eine meiner schwedischen Freundinnen im Hof zur Seite nahm: “Du, würdest du mir einen Gefallen tun? Agneta und ich sind morgen mit zwei jungen Spaniern – angehende Diplomaten – verabredet, aber sie ist jetzt krank und kann nicht mitkommen. Ich will die jungen Männer nicht enttäuschen, wenn sie morgen nur eine Verabredung hier vorfinden.” Ich antwortete, dass es mir leid täte, ich aber bereits anderswertig verplant sei. Doch die Schwedin ließ nicht locker: “Aber es ist nicht am Abend, sondern für den Nachmittag. Sie haben vorgeschlagen hinüber nach Pedreña zum Golfplatz zu fahren und dort im Clubhaus einen Kaffee zu nehmen.” “Du ja, das ginge sich aus. Also bis morgen.” Weder José Manuel noch ich waren bei dieser ersten Begegnung von einander besonders eingenommen. Nach dem Golfclub waren wir vier dann noch im Hafen von Santander gegrillte Sardinen essen. Eine davon fiel mir vom Brot herunter, zuerst auf meine Bluse, dann auf meinen Rock und hinterließ dabei riesige unansehnliche Flecken. Insgesamt kein schöner Anblick. Adiós, adiós…
Aus unserem geplant zweimonatigen Aufenthalt wurden für meine Freundin und mich eineinhalb Jahre. Wir hatten uns in Madrid auf ein Abenteuer eingelassen: Im Zuge der nun rasch wieder aufblühenden spanischen Wirtschaft wurden uns – beide waren wir jeweils dreier bis vier Fremdsprachen kundig – bei der deutschen Handelskammer die Aufträge nur so nachgeworfen.
Und nun wieder zurück zu José Manuel. Er hatte noch zwei Jahre Studium an der Akademie vor sich, bevor er als vollwertiger Diplomat in die Ferne ausrücken konnte. Als zusätzliche Fremdsprache hatte er Russisch gewählt. Bereits 28 Jahre alt, war er bei den Eltern ausgezogen und wohnte in einer Studentenherberge. Wir trafen uns wieder, noch im selben Jahr, ganz zufällig auf einer Party. Und danach immer öfters. Die Weihnachtstage der Jahre 1963 und 1964 verbrachte ich zu Hause bei den Eltern in Wien. Beim zweiten Fest sah meine Mutter liebevoll zu, wie ich eifrig an einem großen dunkelgrünen Pullover strickte. Zu recht hatte sie etwas geahnt. Wie es scheint hat der Pullover gefallen, denn am darauffolgenden 16. Jänner 1965 konnte ich ihr berichten: “Mutti, wir haben uns verlobt!” Die meisten Kollegen José Manuels Jahrgangs wurden schon im Juni, gleich bei Abschluss des Studiums, ins Ausland versetzt. Nur die ersten fünf mit den besten Noten wurden vorläufig im Außenamt behalten. Glücklicherweise unter ihnen auch José Manuel. Unsere Hochzeit am 11. Dezember 1965 am Wiener Franziskanerplatz ist bereits beschrieben. Nach einer kurzen Hochzeitsreise auf die Kanarischen Inseln, zogen wir stolz in unsere kleine nagelneue Madrider Wohnung ein, die ich von den lieben Eltern als Mitgift in die Ehe einbrachte.
Im April 1966 wurde José Manuel mitgeteilt, dass er nach Lima versetzt werde. Wunderschön dachte ich. Furchtbar weit weg, aber ich hatte eine Vorliebe für lateinamerikanische Lieder gewonnen. José Manuel trat seinen neuen Posten als Konsul an und wurde dabei im Rang von einem Sekretär 3. Klasse zu einem 2. Klasse befördert. Wir verbrachten drei sehr schöne, lehrreiche und interessante Jahre in Lima. José Manuel hatte das Glück auf diesem ersten Posten unter zwei hervorragenden Botschaftern zu dienen, etwas, das man nicht hoch genug schätzen kann, denn viel färbt immer von den ersten Kontakten und Eindrücken ab. Immer im Auto unterwegs, machten wir verschiedene große, immer recht abenteuerliche Ausflüge in dem schönen Land. Einmal, noch ziemlich hoch oben in den Anden, kurz vor unserem Ziel Cajamarca, bei pechschwarzer Nacht, hatten wir einen “langsamen” Patschen. Wir hörten wie die Luft – Gott sei Dank nur mühevoll – heraussäuselte. Die Höhe auf der wir uns befanden, die unheimliche Stille und totale Einsamkeit waren mehr als Grund genug in Panik zu verfallen. Der aufrührerische kommunistische “Sendero Luminoso” war damals gerade kurz vor seinem Start. José Manuel hatte sicherheitshalber vorne im Handschuhfach eine Pistole, aber ich glaube nicht, dass er in ihrem Gebrauch sehr geschult war. Die Dunkelheit machte es uns nicht leichter den Reifen zu wechseln und trotz der obligaten Fahrschullehre wussten wir sowieso kaum wie. Dennoch erreichten wir, auf Gott vertrauend und das Beste hoffend, Cajamarca unversehrt.
Im August 1969, kurz nach der Mondlandung, wurde José Manuel nach Washington DC versetzt. In der so optimistischen Zeit für die Amerikaner folgten auch für ihn beruflich äußerst fruchtbare Jahre mit vortrefflichen Botschaftern und Kollegen. DC sollte die größte Botschaft bleiben, der er während seiner Laufbahn diente. Wiederum begann er als Konsul und avancierte während der vier Jahre, die wir in Washington verbrachten, zum Sekretär 1. Klasse. Für mich war es besonders schön mitzuerleben, wie sehr José Manuels Vorgesetzte ihn nicht nur für seine Leistungen, sondern vielmehr auch als Mensch schätzten. Als dann einer der Botschafter, mit dem gemeinsam wir in Lima stationiert gewesen waren, nach Ägypten versetzt wurde, bat er José Manuel mit ihm nach Kairo zu kommen. Obwohl José Manuel auch ihn seinerseits sehr schätzte, lehnte er dankend ab. Das faszinierende Leben und Treiben in Washington war ihm viel zu lieb, als es nach kaum einem Jahr wieder aufzugeben.
Nach Washington wurde er für drei Jahre nach Stockholm berufen. Für alle Mitarbeiter der dortigen Botschaft eine schwierige Position, denn die schwedische Regierung wetterte fortwährend gegen das Franco-Regime und mit dem Außenamt gab es kaum Kontakt. Beinahe jeden Sonntag erschienen Demonstranten vor der Residenz, vor allem chilenische Flüchtige, die nach dem Sturz von Salvador Allende im Jahr 1973 in Schweden aufgenommen worden waren und für den Aufmarsch bezahlt wurden. Nachdem Ministerpräsident Olof Palme, mit Sparbüchse und einem Plakat “Freiheit für Spanien” vor Stockholms größtem Kaufhaus auf und ab gewandert war, zog Spanien den Botschafter aus Schweden ab und José Manuel wurde zum Chargé d’Affaires ernannt. Zu diesem Zeitpunkt jedoch lag er mit einer Rückgratinfektion schwer erkrankt im Spital. Schwedens anerkanntester orthopädischer Chirurg rettete ihm nicht nur das Leben, sondern bewahrte ihn auch vor dem Rollstuhl. Wir beide danken dies Schweden ein Leben lang. Die schwedische Regierung blieb Spanien gegenüber auch über den Tod Francos (20. November 1975) hinaus weiterhin misstrauisch, obwohl José Manuel sein Bestes tat, um das Eis zu brechen. Zum Glück hatte er sich nach dem schweren Eingriff wieder vollkommen erholt, denn es war zwar eine interessante aber doch recht anstrengende Zeit für ihn.
Den Posten des Chargé d’Affaires sollte er bis zu seiner Rückkehr ins Außenamt nach Madrid, Mitte Juni 1976, behalten. Die darauffolgenden neun Jahre blieb José Manuel im Außenamt, in den letzten beiden Jahren leitete er als Generaldirektor die Abteilung für Nordamerika und Pazifik, der er nach seiner Rückkehr zugeteilt worden war. Dazwischen hatte er zwei hektische Jahre in der Presseabteilung verbracht, wo er mitunter auch offizielle Auslandsbesuche von König don Juan Carlos I. und der Königin dona Sofía in situ vorbereitete und an manchen dann auch teilnahm. Dies führte ihn zu einigen Ländern in Süd- und Zentralamerika, nach China und Kanada, nach Belgien und auch zum Staatsbesuch nach Österreich. Zum Opernball, der am Ende des Programms stand, wurde auch ich sehr netterweise eingeladen. Ein wunderschönes Erlebnis, oben in der Mittelloge, mit der Erinnerung an zwei Bälle, die ich in weißem Kleid und mit kleiner Krone unten am Parkett miteröffnet hatte.
Diese neun Jahre in Madrid waren für José Manuel hochinteressant und bildeten einen Höhepunkt seiner Karriere. Sie umfassten die gesamten Jahre, die in Spanien als die Übergangszeit bezeichnet werden und die ersten Jahre der sozialistischen Ministerpräsidentschaft von Felipe González. Als Generaldirektor u. a. für Nordamerika nahm José Manuel einige Male an den Verhandlungen, die González mit der Regierung der Vereinigten Staaten, die damals unter Reagan stand, teil.
1984 wurde er zum außerordentlichen Botschafter ernannt, um Spanien bei der Unabhängigkeitsfeier von Brunei zu repräsentieren. Im selben Jahr wurde er auch zu einem offiziellen Besuch nach Südkorea eingeladen. Mehr als diese paar Details kann ich hier nicht wiedergeben, mehr würde ein ganzes Buch füllen.
Im Jänner 1985 wurde José Manuel zum Botschafter für Schweden ernannt und im darauffolgenden Monat auch zum Botschafter und Leiter der Delegation zur Konferenz für Sicherheit und Abrüstung, die seit Jänner 1984 in Stockholm tagte. So konnte er erst im März seinen neuen Posten antreten, weil darüber hinaus Ende Februar der Staatsbesuch von Naruhito, dem damaligen Kronprinzen von Japan stattfand, dessen Vorbereitung ebenfalls ihm oblag. In Stockholm hatte sich seit seiner letzten Amtszeit die Stimmung gegenüber Spanien verändert. Bald nach José Manuels Ankunft fand der offizielle Besuch von Felipe González statt.
Nach beinahe weiteren fünf Jahren, überfüllt mit vielen denkwürdigen Ereignissen, erwarteten wir täglich die Nachricht seiner Versetzung. Noch Anfang Juni buchten wir einen Charterflug nach Kreta, bei dem man direkt von Stockholm nach Chania flog und dabei über Jugoslawien. Auf dem langen Flug machte jeder von uns beiden, zum Zeitvertreib, eine Liste mit Ländern, in die wir gerne ziehen würden und in welche nicht. Jugoslawien schien dabei nirgends auf, wurde völlig ausgeblendet. Gleich nach unserer Rückkehr von Kreta erfuhren wir von José Manuels Versetzung nach Belgrad und dass er zusätzlich auch als Botschafter für Albanien ernannt worden war.
Jugoslawien. Als José Manuel dort seinen Posten im September 1990 antrat, war das Zerbröckeln des Vielvölkerstaates schon weit vorangeschritten. Eine spanische Ausstellung über die erfolgreiche Übergangszeit des Landes, wurde einige Monate später möglichst weit weg vom belebten Belgrader Zentrum aufgestellt. Sie landete in einem unscheinbaren trostlosen Lokal in Zemun, am anderen Ufer der Save (ehemals Teil von Altösterreich). Neben seinem Antrittsbesuch vor Milošević in Belgrad, war es José Manuel noch gelungen in weiteren drei der insgesamt sechs Teilstaaten einen offiziellen Besuch abzustatten: Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzogowina. Montenegro und Mazedonien waren sich nicht mehr ausgegangen, denn im September 1991 zogen schon die Panzer gegen Kroatien. Am 16. Mai 1992 verließen alle Botschafter der EWG und der Vereinigten Staaten als Protest gegen Milošević Belgrad.
Wir kehrten nach Madrid zurück. José Manuel war weiterhin noch für einige Zeit Botschafter für Albanien, wo er im März des vorangegangenen Jahres seinen Antrittsbesuch gemacht hatte, den man regelrecht als abenteuerlich bezeichnen kann. Insgesamt hatten wir eine Woche in Tirana verbracht. Es war Usus der dortigen Regierung dem jeweiligen Botschafter mitzuteilen, dass Präsident Ramiz Alia ihn ab einem „gewissen Tag“ empfangen würde. Der entsprechende Botschafter fuhr also nach Tirana, wartete vier Tage geduldig auf die Berufung; am fünften Tag ließ er wissen, dass er wegen dringender Geschäfte wieder abreisen müsse. Prompt darauf kam die Antwort, dass man ihn am nächsten Tag empfangen würde… Im Juli 1992 kehrte José Manuel nochmals offiziell nach Albanien zurück, um der Regierung Spaniens Hilfspaket zu übergeben.
Im folgenden Jahr, im April 1993, erhielt José Manuel den hoch interessanten und sehr begehrten Posten des Generalkonsuls in New York City. Dieser wurde zu seinem Lieblingsposten. Nach New York folgten ab August 1998 vier Jahre als Generalkonsul in Frankreich, in Pau, im Südwesten des Landes. Pau, als Hauptstadt der Provinz Pyrénées-Atlantiques, hatte damals im Zusammenhang mit der zeitweiligen französischen Unterstützung der Terroristengruppe ETA politische Schwierigkeiten mit Spanien. Eine hausgemachte Bombe wurde einmal früh morgens vor dem Eingang zum Konsulat gefunden und konnte noch rechtzeitig deaktiviert werden. Nicht ungefährlich, da Konsulat und Residenz im selben Gebäude untergebracht waren und sich das Schlafzimmer des Konsuls oberhalb des Eingangs zum Konsulat befunden hatte. Ansonsten bestand die dortige Arbeit mehrheitlich aus kulturellen Belangen und dem Bestreben die historische Eisenbahnstrecke Pau-Somport–Pyrenäen wieder in Gang zu setzen. Insgesamt waren es vier schöne Jahre, die José Manuels Auslandskarriere beendeten und die Nähe zu Spanien wirkte sich positiv auf das Instandsetzen des zukünftigen Zinnsoldaten-Museums aus.
All die vielen langen Jahre hindurch war der größte Teil seiner schönen Zinnsoldaten-Sammlung zu einem Dornröschenschlaf verurteilt gewesen. In Schuh- und Zigarrenschachteln, sorgsam in Seidenpapier verpackt, wurden sie zuerst im Elternhaus in Guernica verwahrt und dann im Abstellraum des Kellers, den wir gemeinsam mit dem Kauf einer neuen Wohnung in Madrid erworben hatten. Einige Stücke aber führte José Manuel immer mit sich und kaufte auch während diverser Reisen weitere bei Antiquaren in London, Paris und auch Wien ein. 1994 realisierte sich sein Traum. Wir erwarben in der kleinen historischen Stadt Sepúlveda, unweit von Madrid, ein kleines Haus, das der Sammlung als Museum dienen sollte. Nach einer vollkommenen Renovierung 1998 und bald darauf auch mit Vitrinen ausgestattet, war das Gebäude bereit, seine neuen kleinen Bewohner aus Zinn und Blei aufzunehmen. Im März 2005 trat José Manuel seinen Ruhestand an und konnte auf eine interessante und erfüllte Laufbahn zurückblicken. Am 1. Mai 2003 öffnete das Museum erstmals seine Pforten. Ich habe bisher immer von Zinnsoldaten gesprochen aber José Manuel gab dem Museum ausdrücklich den Namen „Museo de figuras de juguetes antiguas“, kurz FiJAS (“Museum alter Spielfiguren”), da rund 30 % der Sammlung aus Zivilfiguren besteht. Es wurde ein schöner Erfolg und von Groß und Klein genossen. José Manuel erfreute sich an ihm bis zu seinem allzu frühen Tod, fünf Jahre später, am 19.6.2008. Er verstarb im Alter von 73 Jahren in Madrid an einem Herzinfarkt – für den Betroffenen die barmherzigste Art in das ewige Leben hinüber zu gehen.
José Manuel war ein Leben lang immer rege an Geschichte interessiert und hinterließ mehrere Bücher. Das erste schrieb er in Washington, es behandelt den Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898. Es beschreibt den rasch voranschreitenden Imperialismus der Amerikaner und das endgültigen Ende Spaniens als Weltmacht, welches durch den Verlust von Kuba und den Philippinen besiegelt wurde. Das Buch fand einen großen Leserkreis. Auch schrieb er über die politische Lage zu Zeiten seines Großvaters und sein Büchlein über Zinnsoldaten wird jetzt noch von Sammlern und Kennern als die „spanische Bibel” hinsichtlich der Materie beschrieben.
Was José Manuel und mich betrifft: Es gibt den Spruch, man muss im Leben ein Kind in die Welt setzen, einen Baum anpflanzen und ein Buch schreiben. Sowohl er als auch ich haben nicht nur mehrere Bäume angepflanzt und mehrere Bücher geschrieben, der Kindersegen jedoch wurde uns leider verwehrt. Doch kann ich aus ganzem Herzen sagen, dass ich jedem Ehepaar eine solch´ glückliche Ehe wünsche, wie sie uns zuteil wurde.
Ursula de Allendesalazar, Spanien im Herbst 2023
Ursula Bertele v. Grenadenberg und José Manuel
/in Georg II. Anton Mautner von Markhof /von Beate HemmerleinUrsula Bertele von Grenadenberg Mautner von Markhof de Allendesalazar, schlichtweg „Ucki“, wie die liebenswürdige, bescheidene, lebens- und reiselustige Dame seit ihrer Kindheit von Familie und Freunden genannt wird, wurde als das sechste von sieben Kindern der Marceline Mautner v. Markhof und des Hans Bertele v. Grenadenberg am 7.12.1941 in Berlin geboren. Aufgrund der Kriegswirren wuchs sie die ersten Jahre bei ihrer Großmutter Emilie „Emy“ Mautner v. Markhof unter der Obhut des Kindermädchens Nana in Gaaden auf, bevor sie im August 1947 mit ihren Eltern nach England emigrierte, wo sie den Rest ihrer Kindheit und Jugend verbrachte. 1960 übersiedelte die Familie zurück nach Wien, wo sie den Familiensitz von Adolf Ignaz am Franziskanerplatz bezog. Nachdem sie im Dezember 1965 ihren spanischen Mann geehelicht hatte, begannen für sie viele Jahrzehnte des Reisens, die sie als Diplomatengattin in verschiedene Länder führten. Immer interessiert an den unterschiedlichsten Themen, verfasste sie über die Jahre hinweg vier Bücher in vier Sprachen. Ucki lebt seit dem Ableben ihres Mannes im Jahr 2008 vorwiegend in Madrid und Sepúlveda/Spanien. In der Folge erzählt Ucki über José Manuel und ihr gemeinsames Leben.
Es bereitet mir Freude, dass man mich gebeten hat über das Leben meines Mannes – und so auch zu einem Teil über das meine – zu berichten. Doch stelle ich fest, dass es keine leichte Aufgabe ist, das genau richtige Maß zwischen Zärtlichkeit und Sachlichkeit zu treffen.
José Manuel stammte von einer alteingesessenen Familie aus Guernica im Baskenland ab. Sein Großvater, Manuel Allendesalazar Muñoz de Salazar (1856 – 1923) war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein bedeutender Politiker und mehrfacher Minister sowie zweimaliger Ministerpräsident konservativer Regierungen gewesen. Sein Vater Andrés Allendesalazar, mit fast fünfzig Jahren bereits verwitwet und mit zwei Kindern gesegnet, heiratete ein weiteres Mal und so erblickte José Manuel noch knapp vor Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges, am 3.3.1935, das Licht der Welt. Kurz darauf gelangte sein Vater in die Gefangenschaft der Republikaner. José Manuel überlebte, im Garten des etwas entlegenen Familienbesitzes und unter dem zusätzlichen Schutz des Leibes seiner Mutter Carmen Loyzaga die Bombardierung von Guernica, die am 26. April 1937 stattfand. Noch vor Ende des Bürgerkriegs entkam sein Vater der Gefangenschaft und die Familie übersiedelte vorläufig nach Sevilla.
Als sich das Leben im verwüsteten Spanien dann langsam zusehends beruhigt hatte, nahm die Familie wieder ihren gewohnten Lebensrhythmus auf: die Sommer wurden in Guernica verbracht, der Rest des Jahres in Madrid. José Manuel wurde von einem Hauslehrer privat unterrichtet. Ein paar Jahre später übersiedelte man von Madrid nach San Sebastián. Eine von José Manuels schönsten Erinnerungen war es, von der Wohnung, welche direkt an einer Anhöhe oberhalb der herrlichen Bucht von San Sebastián lag, auf den berühmten Strand La Concha zu blicken. Trotz seiner Vorliebe für diese Wohnung, in der er sogar ein ganzes Zimmer, in dem er seine Zinnsoldaten-Sammlung aufstellen konnte, für sich alleine hatte, kam bereits dem elfjährigen Buben das allzu sehr verhätschelte Leben mit den so lieben aber ihm uralt vorkommenden Eltern und dem Hauslehrer zu eingeschränkt vor. Er wollte unbedingt wie alle Gleichaltrigen eine Schule besuchen. Nur mit Mühe konnte er dies durchsetzen. Und so begann für ihn ein neues Leben: im Jesuiten Gymnasium in San Sebastián. Zwar hatte er damit einen großen Sieg errungen, doch zu seinem ebenso großen Leidwesen zog die Familie daraufhin in eine andere Wohnung in der Innenstadt. 1952, nach bestandener Matura übersiedelte die Familie nach Madrid, da sich José Manuel für das fünfjährige Jus Studium entschieden hatte. Die drei Sommermonate wurden wie immer in Guernica verbracht, aber José Manuel zog es bereits damals auch in die Ferne. In Frankreich bereiste er Pau, La Rochelle und Paris um seine Sprachkenntnisse zu verbessern, später aus demselben Grund auch London und Dublin. Da er sich dazu entschlossen nach der Beendigung der Universität Diplomat zu werden, standen ihm eine Reihe sehr heftiger Prüfungen bevor, deren wichtiger Bestandteil auch Fremdsprachen waren.
Den Entschluss Diplomat zu werden hatte er nicht leicht gefasst, denn aufgrund seiner Liebe zu den Zinnsoldaten hätte er am liebsten eine Offizierslaufbahn eingeschlagen. Nur sehr langsam war er von dieser Idee abgekommen. Ab seinem 21. Lebensjahr absolvierte er zwei ganze Sommer hindurch seinen Militärdienst, da der Dienst für Studenten vorzugsweise auf 6 Monate beschränkt war. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Jus Studiums begann das Büffeln für die Staatsprüfung zur Aufnahme in die Diplomatische Akademie. Für die bevorstehende Prüfung des Jahres 1959 fand er sich genügend vorbereitet und trat – als einer von hunderten Anwärtern, die sich für ca. zwanzig Stellen beworben hatten – an. Er bestand nicht. Glücklicherweise für mich, wie sich ein wenig später herausstellen sollte. Doch diese Prüfung des Jahrgangs 1959 hatte auch verhängnisvolle Folgen. Mehrere der zwanzig aufgenommenen Kandidaten waren völlig unzulänglich vorbereitet gewesen und nur als Söhne oder Neffen von dem einen oder anderen Minister oder sonstiger einflussreicher Persönlichkeit durch Protektion durchgekommen. Es gab einen Skandal und als Franco davon erfuhr, geriet er in solche Wut, dass er die diesbezügliche Staatsprüfung einfach auf „unbestimmte“ Zeit einstellen ließ. Auf unbestimmte Zeit? Auf ganze vier Jahre! Die armseligen, hoffnungsvollen Kandidaten bereiteten sich jedes darauffolgende Jahr wiederholt auf diese Prüfung vor, die dann aber doch nicht stattgefunden hatte. José Manuels Eltern wollten ihm in dieser Zeit dazu verhelfen in einer der großen Banken von Bilbao unterzukommen, aber ihm war es aus eigener Kraft gelungen, eine Stellung in der Staatsverwaltung zu erlangen. Trotzdem studierte er immer brav weiter und nahm nun auch selbst Schüler auf. 1963 endlich wurde die so heiß ersehnte Staatsprüfung wieder angekündigt und José Manuel wurde mit dem zweitbesten Notendurchschnitt aufgenommen. Nach diesem Erfolg konnte der Sommer überglücklich mit endlosen Feiern begonnen werden und José Manuel kreiste munter mit seinem kleinen alten Seat 600 (spanischer Fiat), den er sich von seinen Ersparnissen nach neu erworbenem Führerschein gekauft hatte, durch die Gegend. Ende August hatte er zwei von seinen frisch gebackenen Diplomaten-Kollegen auf ein paar Tage nach Guernica eingeladen. Einer von ihnen schlug vor: “Fahren wir doch nach Santander. Dort, bei der dafür bekannten Sommeruniversität für Ausländer ist es recht lustig mit Schwedinnen und sonstigen hübschen jungen Mädchen anzubandeln.” “Setzt mich in Santander ab und versucht ihr zwei nur euer Glück,” meinte dazu einer der beiden Freunde, der ja von dort stammte.
Zu diesem Zeitpunkt war ich, gemeinsam mit einer Wiener Freundin, gerade für zwei Monate bei besagter Universität gelandet und entsprechend eines der hübschen Mädchen zum „Anbandeln“. Wir beide hatten am Dolmetsch Institut der Wiener Philosophischen Fakultät inskribiert und es noch nicht sehr weit gebracht. Bei den für uns verpflichtenden Philosophie Vorlesungen, begegnete ich manchmal auch meinem Onkel „Buwa“ Georg III. MM, der damals gerade seinen dritten Doktor machte. Besagte Freundin besaß einen kleinen roten Volkswagen, in dem wir Ende Juni 1963 munter “ins Blaue“ abfuhren. Doch nicht zu einem immer blauen spanischen Himmel, wie sich herausstellen sollte. Den ganzen Sommer hindurch regnete es fast ununterbrochen. Ich hatte ab August in eine private Unterkunft abseits der Universitätsherberge gewechselt, pflegte aber weiterhin netten Kontakt mit vielen der dortigen Studentinnen und besuchte sie noch öfters in der Herberge auf der kleinen Insel, untergebracht in den früheren königlichen Stallungen des ganz nahe gelegenen Schlosses. Trotz des Regens – hatte mich meine Jugend in England diesbezüglich ja abgehärtet – ging ich dort auch oft schwimmen. So auch am 23. August, als mich eine meiner schwedischen Freundinnen im Hof zur Seite nahm: “Du, würdest du mir einen Gefallen tun? Agneta und ich sind morgen mit zwei jungen Spaniern – angehende Diplomaten – verabredet, aber sie ist jetzt krank und kann nicht mitkommen. Ich will die jungen Männer nicht enttäuschen, wenn sie morgen nur eine Verabredung hier vorfinden.” Ich antwortete, dass es mir leid täte, ich aber bereits anderswertig verplant sei. Doch die Schwedin ließ nicht locker: “Aber es ist nicht am Abend, sondern für den Nachmittag. Sie haben vorgeschlagen hinüber nach Pedreña zum Golfplatz zu fahren und dort im Clubhaus einen Kaffee zu nehmen.” “Du ja, das ginge sich aus. Also bis morgen.” Weder José Manuel noch ich waren bei dieser ersten Begegnung von einander besonders eingenommen. Nach dem Golfclub waren wir vier dann noch im Hafen von Santander gegrillte Sardinen essen. Eine davon fiel mir vom Brot herunter, zuerst auf meine Bluse, dann auf meinen Rock und hinterließ dabei riesige unansehnliche Flecken. Insgesamt kein schöner Anblick. Adiós, adiós…
Aus unserem geplant zweimonatigen Aufenthalt wurden für meine Freundin und mich eineinhalb Jahre. Wir hatten uns in Madrid auf ein Abenteuer eingelassen: Im Zuge der nun rasch wieder aufblühenden spanischen Wirtschaft wurden uns – beide waren wir jeweils dreier bis vier Fremdsprachen kundig – bei der deutschen Handelskammer die Aufträge nur so nachgeworfen.
Und nun wieder zurück zu José Manuel. Er hatte noch zwei Jahre Studium an der Akademie vor sich, bevor er als vollwertiger Diplomat in die Ferne ausrücken konnte. Als zusätzliche Fremdsprache hatte er Russisch gewählt. Bereits 28 Jahre alt, war er bei den Eltern ausgezogen und wohnte in einer Studentenherberge. Wir trafen uns wieder, noch im selben Jahr, ganz zufällig auf einer Party. Und danach immer öfters. Die Weihnachtstage der Jahre 1963 und 1964 verbrachte ich zu Hause bei den Eltern in Wien. Beim zweiten Fest sah meine Mutter liebevoll zu, wie ich eifrig an einem großen dunkelgrünen Pullover strickte. Zu recht hatte sie etwas geahnt. Wie es scheint hat der Pullover gefallen, denn am darauffolgenden 16. Jänner 1965 konnte ich ihr berichten: “Mutti, wir haben uns verlobt!” Die meisten Kollegen José Manuels Jahrgangs wurden schon im Juni, gleich bei Abschluss des Studiums, ins Ausland versetzt. Nur die ersten fünf mit den besten Noten wurden vorläufig im Außenamt behalten. Glücklicherweise unter ihnen auch José Manuel. Unsere Hochzeit am 11. Dezember 1965 am Wiener Franziskanerplatz ist bereits beschrieben. Nach einer kurzen Hochzeitsreise auf die Kanarischen Inseln, zogen wir stolz in unsere kleine nagelneue Madrider Wohnung ein, die ich von den lieben Eltern als Mitgift in die Ehe einbrachte.
Im April 1966 wurde José Manuel mitgeteilt, dass er nach Lima versetzt werde. Wunderschön dachte ich. Furchtbar weit weg, aber ich hatte eine Vorliebe für lateinamerikanische Lieder gewonnen. José Manuel trat seinen neuen Posten als Konsul an und wurde dabei im Rang von einem Sekretär 3. Klasse zu einem 2. Klasse befördert. Wir verbrachten drei sehr schöne, lehrreiche und interessante Jahre in Lima. José Manuel hatte das Glück auf diesem ersten Posten unter zwei hervorragenden Botschaftern zu dienen, etwas, das man nicht hoch genug schätzen kann, denn viel färbt immer von den ersten Kontakten und Eindrücken ab. Immer im Auto unterwegs, machten wir verschiedene große, immer recht abenteuerliche Ausflüge in dem schönen Land. Einmal, noch ziemlich hoch oben in den Anden, kurz vor unserem Ziel Cajamarca, bei pechschwarzer Nacht, hatten wir einen “langsamen” Patschen. Wir hörten wie die Luft – Gott sei Dank nur mühevoll – heraussäuselte. Die Höhe auf der wir uns befanden, die unheimliche Stille und totale Einsamkeit waren mehr als Grund genug in Panik zu verfallen. Der aufrührerische kommunistische “Sendero Luminoso” war damals gerade kurz vor seinem Start. José Manuel hatte sicherheitshalber vorne im Handschuhfach eine Pistole, aber ich glaube nicht, dass er in ihrem Gebrauch sehr geschult war. Die Dunkelheit machte es uns nicht leichter den Reifen zu wechseln und trotz der obligaten Fahrschullehre wussten wir sowieso kaum wie. Dennoch erreichten wir, auf Gott vertrauend und das Beste hoffend, Cajamarca unversehrt.
Im August 1969, kurz nach der Mondlandung, wurde José Manuel nach Washington DC versetzt. In der so optimistischen Zeit für die Amerikaner folgten auch für ihn beruflich äußerst fruchtbare Jahre mit vortrefflichen Botschaftern und Kollegen. DC sollte die größte Botschaft bleiben, der er während seiner Laufbahn diente. Wiederum begann er als Konsul und avancierte während der vier Jahre, die wir in Washington verbrachten, zum Sekretär 1. Klasse. Für mich war es besonders schön mitzuerleben, wie sehr José Manuels Vorgesetzte ihn nicht nur für seine Leistungen, sondern vielmehr auch als Mensch schätzten. Als dann einer der Botschafter, mit dem gemeinsam wir in Lima stationiert gewesen waren, nach Ägypten versetzt wurde, bat er José Manuel mit ihm nach Kairo zu kommen. Obwohl José Manuel auch ihn seinerseits sehr schätzte, lehnte er dankend ab. Das faszinierende Leben und Treiben in Washington war ihm viel zu lieb, als es nach kaum einem Jahr wieder aufzugeben.
Nach Washington wurde er für drei Jahre nach Stockholm berufen. Für alle Mitarbeiter der dortigen Botschaft eine schwierige Position, denn die schwedische Regierung wetterte fortwährend gegen das Franco-Regime und mit dem Außenamt gab es kaum Kontakt. Beinahe jeden Sonntag erschienen Demonstranten vor der Residenz, vor allem chilenische Flüchtige, die nach dem Sturz von Salvador Allende im Jahr 1973 in Schweden aufgenommen worden waren und für den Aufmarsch bezahlt wurden. Nachdem Ministerpräsident Olof Palme, mit Sparbüchse und einem Plakat “Freiheit für Spanien” vor Stockholms größtem Kaufhaus auf und ab gewandert war, zog Spanien den Botschafter aus Schweden ab und José Manuel wurde zum Chargé d’Affaires ernannt. Zu diesem Zeitpunkt jedoch lag er mit einer Rückgratinfektion schwer erkrankt im Spital. Schwedens anerkanntester orthopädischer Chirurg rettete ihm nicht nur das Leben, sondern bewahrte ihn auch vor dem Rollstuhl. Wir beide danken dies Schweden ein Leben lang. Die schwedische Regierung blieb Spanien gegenüber auch über den Tod Francos (20. November 1975) hinaus weiterhin misstrauisch, obwohl José Manuel sein Bestes tat, um das Eis zu brechen. Zum Glück hatte er sich nach dem schweren Eingriff wieder vollkommen erholt, denn es war zwar eine interessante aber doch recht anstrengende Zeit für ihn.
Den Posten des Chargé d’Affaires sollte er bis zu seiner Rückkehr ins Außenamt nach Madrid, Mitte Juni 1976, behalten. Die darauffolgenden neun Jahre blieb José Manuel im Außenamt, in den letzten beiden Jahren leitete er als Generaldirektor die Abteilung für Nordamerika und Pazifik, der er nach seiner Rückkehr zugeteilt worden war. Dazwischen hatte er zwei hektische Jahre in der Presseabteilung verbracht, wo er mitunter auch offizielle Auslandsbesuche von König don Juan Carlos I. und der Königin dona Sofía in situ vorbereitete und an manchen dann auch teilnahm. Dies führte ihn zu einigen Ländern in Süd- und Zentralamerika, nach China und Kanada, nach Belgien und auch zum Staatsbesuch nach Österreich. Zum Opernball, der am Ende des Programms stand, wurde auch ich sehr netterweise eingeladen. Ein wunderschönes Erlebnis, oben in der Mittelloge, mit der Erinnerung an zwei Bälle, die ich in weißem Kleid und mit kleiner Krone unten am Parkett miteröffnet hatte.
Diese neun Jahre in Madrid waren für José Manuel hochinteressant und bildeten einen Höhepunkt seiner Karriere. Sie umfassten die gesamten Jahre, die in Spanien als die Übergangszeit bezeichnet werden und die ersten Jahre der sozialistischen Ministerpräsidentschaft von Felipe González. Als Generaldirektor u. a. für Nordamerika nahm José Manuel einige Male an den Verhandlungen, die González mit der Regierung der Vereinigten Staaten, die damals unter Reagan stand, teil.
1984 wurde er zum außerordentlichen Botschafter ernannt, um Spanien bei der Unabhängigkeitsfeier von Brunei zu repräsentieren. Im selben Jahr wurde er auch zu einem offiziellen Besuch nach Südkorea eingeladen. Mehr als diese paar Details kann ich hier nicht wiedergeben, mehr würde ein ganzes Buch füllen.
Im Jänner 1985 wurde José Manuel zum Botschafter für Schweden ernannt und im darauffolgenden Monat auch zum Botschafter und Leiter der Delegation zur Konferenz für Sicherheit und Abrüstung, die seit Jänner 1984 in Stockholm tagte. So konnte er erst im März seinen neuen Posten antreten, weil darüber hinaus Ende Februar der Staatsbesuch von Naruhito, dem damaligen Kronprinzen von Japan stattfand, dessen Vorbereitung ebenfalls ihm oblag. In Stockholm hatte sich seit seiner letzten Amtszeit die Stimmung gegenüber Spanien verändert. Bald nach José Manuels Ankunft fand der offizielle Besuch von Felipe González statt.
Nach beinahe weiteren fünf Jahren, überfüllt mit vielen denkwürdigen Ereignissen, erwarteten wir täglich die Nachricht seiner Versetzung. Noch Anfang Juni buchten wir einen Charterflug nach Kreta, bei dem man direkt von Stockholm nach Chania flog und dabei über Jugoslawien. Auf dem langen Flug machte jeder von uns beiden, zum Zeitvertreib, eine Liste mit Ländern, in die wir gerne ziehen würden und in welche nicht. Jugoslawien schien dabei nirgends auf, wurde völlig ausgeblendet. Gleich nach unserer Rückkehr von Kreta erfuhren wir von José Manuels Versetzung nach Belgrad und dass er zusätzlich auch als Botschafter für Albanien ernannt worden war.
Jugoslawien. Als José Manuel dort seinen Posten im September 1990 antrat, war das Zerbröckeln des Vielvölkerstaates schon weit vorangeschritten. Eine spanische Ausstellung über die erfolgreiche Übergangszeit des Landes, wurde einige Monate später möglichst weit weg vom belebten Belgrader Zentrum aufgestellt. Sie landete in einem unscheinbaren trostlosen Lokal in Zemun, am anderen Ufer der Save (ehemals Teil von Altösterreich). Neben seinem Antrittsbesuch vor Milošević in Belgrad, war es José Manuel noch gelungen in weiteren drei der insgesamt sechs Teilstaaten einen offiziellen Besuch abzustatten: Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzogowina. Montenegro und Mazedonien waren sich nicht mehr ausgegangen, denn im September 1991 zogen schon die Panzer gegen Kroatien. Am 16. Mai 1992 verließen alle Botschafter der EWG und der Vereinigten Staaten als Protest gegen Milošević Belgrad.
Wir kehrten nach Madrid zurück. José Manuel war weiterhin noch für einige Zeit Botschafter für Albanien, wo er im März des vorangegangenen Jahres seinen Antrittsbesuch gemacht hatte, den man regelrecht als abenteuerlich bezeichnen kann. Insgesamt hatten wir eine Woche in Tirana verbracht. Es war Usus der dortigen Regierung dem jeweiligen Botschafter mitzuteilen, dass Präsident Ramiz Alia ihn ab einem „gewissen Tag“ empfangen würde. Der entsprechende Botschafter fuhr also nach Tirana, wartete vier Tage geduldig auf die Berufung; am fünften Tag ließ er wissen, dass er wegen dringender Geschäfte wieder abreisen müsse. Prompt darauf kam die Antwort, dass man ihn am nächsten Tag empfangen würde… Im Juli 1992 kehrte José Manuel nochmals offiziell nach Albanien zurück, um der Regierung Spaniens Hilfspaket zu übergeben.
Im folgenden Jahr, im April 1993, erhielt José Manuel den hoch interessanten und sehr begehrten Posten des Generalkonsuls in New York City. Dieser wurde zu seinem Lieblingsposten. Nach New York folgten ab August 1998 vier Jahre als Generalkonsul in Frankreich, in Pau, im Südwesten des Landes. Pau, als Hauptstadt der Provinz Pyrénées-Atlantiques, hatte damals im Zusammenhang mit der zeitweiligen französischen Unterstützung der Terroristengruppe ETA politische Schwierigkeiten mit Spanien. Eine hausgemachte Bombe wurde einmal früh morgens vor dem Eingang zum Konsulat gefunden und konnte noch rechtzeitig deaktiviert werden. Nicht ungefährlich, da Konsulat und Residenz im selben Gebäude untergebracht waren und sich das Schlafzimmer des Konsuls oberhalb des Eingangs zum Konsulat befunden hatte. Ansonsten bestand die dortige Arbeit mehrheitlich aus kulturellen Belangen und dem Bestreben die historische Eisenbahnstrecke Pau-Somport–Pyrenäen wieder in Gang zu setzen. Insgesamt waren es vier schöne Jahre, die José Manuels Auslandskarriere beendeten und die Nähe zu Spanien wirkte sich positiv auf das Instandsetzen des zukünftigen Zinnsoldaten-Museums aus.
All die vielen langen Jahre hindurch war der größte Teil seiner schönen Zinnsoldaten-Sammlung zu einem Dornröschenschlaf verurteilt gewesen. In Schuh- und Zigarrenschachteln, sorgsam in Seidenpapier verpackt, wurden sie zuerst im Elternhaus in Guernica verwahrt und dann im Abstellraum des Kellers, den wir gemeinsam mit dem Kauf einer neuen Wohnung in Madrid erworben hatten. Einige Stücke aber führte José Manuel immer mit sich und kaufte auch während diverser Reisen weitere bei Antiquaren in London, Paris und auch Wien ein. 1994 realisierte sich sein Traum. Wir erwarben in der kleinen historischen Stadt Sepúlveda, unweit von Madrid, ein kleines Haus, das der Sammlung als Museum dienen sollte. Nach einer vollkommenen Renovierung 1998 und bald darauf auch mit Vitrinen ausgestattet, war das Gebäude bereit, seine neuen kleinen Bewohner aus Zinn und Blei aufzunehmen. Im März 2005 trat José Manuel seinen Ruhestand an und konnte auf eine interessante und erfüllte Laufbahn zurückblicken. Am 1. Mai 2003 öffnete das Museum erstmals seine Pforten. Ich habe bisher immer von Zinnsoldaten gesprochen aber José Manuel gab dem Museum ausdrücklich den Namen „Museo de figuras de juguetes antiguas“, kurz FiJAS (“Museum alter Spielfiguren”), da rund 30 % der Sammlung aus Zivilfiguren besteht. Es wurde ein schöner Erfolg und von Groß und Klein genossen. José Manuel erfreute sich an ihm bis zu seinem allzu frühen Tod, fünf Jahre später, am 19.6.2008. Er verstarb im Alter von 73 Jahren in Madrid an einem Herzinfarkt – für den Betroffenen die barmherzigste Art in das ewige Leben hinüber zu gehen.
José Manuel war ein Leben lang immer rege an Geschichte interessiert und hinterließ mehrere Bücher. Das erste schrieb er in Washington, es behandelt den Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898. Es beschreibt den rasch voranschreitenden Imperialismus der Amerikaner und das endgültigen Ende Spaniens als Weltmacht, welches durch den Verlust von Kuba und den Philippinen besiegelt wurde. Das Buch fand einen großen Leserkreis. Auch schrieb er über die politische Lage zu Zeiten seines Großvaters und sein Büchlein über Zinnsoldaten wird jetzt noch von Sammlern und Kennern als die „spanische Bibel” hinsichtlich der Materie beschrieben.
Was José Manuel und mich betrifft: Es gibt den Spruch, man muss im Leben ein Kind in die Welt setzen, einen Baum anpflanzen und ein Buch schreiben. Sowohl er als auch ich haben nicht nur mehrere Bäume angepflanzt und mehrere Bücher geschrieben, der Kindersegen jedoch wurde uns leider verwehrt. Doch kann ich aus ganzem Herzen sagen, dass ich jedem Ehepaar eine solch´ glückliche Ehe wünsche, wie sie uns zuteil wurde.
Ursula de Allendesalazar, Spanien im Herbst 2023
Tagebuch des Gustav I. von Reininghaus
/in Reininghaus/Linie 1 /von Ulrike ReininghausTagebuch des Gustav I. v. Reininghaus
Gustav I. von Reininghaus (1851 – 1883) wurde von seinen Eltern, Johann Peter und Therese, mit 18 Jahren an das Polytechnikum in Zürich – heute die Eidgenössische Technische Hochschule – geschickt. Solange er dort noch keine Freunde gefunden hatte, schrieb er seine Erlebnisse und Gedanken in ein Tagebuch, jedoch nur in den ersten Monaten regelmäßig.
Anfangs hatte Gustav großes Heimweh nach Eltern und Geschwistern in Graz. Er fügte sich jedoch den Wünschen seines Vaters und absolvierte diverse naturwissenschaftliche und technische Studiengänge, wobei er jedoch lieber die Mathematik weiter vertieft hätte. Für einen 18-Jährigen erscheinen seine Gedanken außerordentlich erwachsen und er selbst sehr gebildet und pflichtbewusst. Obwohl er geistreiche Dinge schrieb, hatte er aber wohl auch immer die Sorge im Hinterkopf, dass sein Tagebuch einmal jemandem in die Hände fallen könnte. Interessanterweise hatte sein Studienfleiß irgendwann nachgelassen – wie man aus den letzten Zeilen des Buches von Februar 1871 erfahren kann. Die kleine „Abrechnung“ dort mit sich selbst macht ihn umso sympathischer und sein Abgangszeugnis zeigt, dass ihn Fleiß und Wille irgendwann wieder eingeholt haben müssen.
Familienerinnerungen des Gustav Piffl
/in Reininghaus/Linie 1 /von Maximilian SpechtlerIn einer Familie aufzuwachsen, die sich über mehrere Generationen, Stämme, Städte und Länder erstreckt, war für mich nicht einfach. In der nächsten Umgebung der Verwandtschaft kannte ich meinen Platz, doch weiter entfernt war ich mir stets unbewusst, wo und wie ich mich selbst einzuordnen hatte. Das wenige, das ich über weiter entfernten Angehörigen wusste, waren meist nur die Namen, die in Konversationen oder Erzählungen mit Selbstverständlichkeit erwähnt wurden. Bei großen Familienfesten, die in meiner Kindheit noch stattfanden, wurde ich herzlich von Menschen beim Vornamen begrüßt, deren Gesicht ich im besten Fall flüchtig kannte, aber die mir trotzdem fremd waren. Mit der Zeit füllten sich Lücken in meinem imaginären Stammbaum, doch essenzielle Knotenpunkte blieben in meinen Gedanken für lange Zeit nicht verknüpft.
Gegen Ende des vergangenen Jahres 2022 bot sich mir durch eine Pause zwischen zwei Anstellungen die Zeit, meine eigene Familienhistorie für mich selbst aufzuarbeiten. Ich erinnerte mich an einen dicken, schwarzen und abgegriffenen Ordner, der über viele Jahre und Umzüge hinweg mit mir wanderte, dem ich aber nie Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Dieser Ordner, auf dem Rücken betitelt mit „Gustav Piffl – Familienerinnerungen“ gelang als Besitz meines Vaters in meine Hände, womöglich durch falsches Einsortieren bei einem Umzug, oder schon als früherer Versuch, die Familienhistorie zu erkunden.
Bereits nach dem ersten Durchblättern der maschinengeschriebenen Seiten wurde mir bewusst, dass es sich hier um mehr als die Antworten zu meinen lange gestellten Fragen handelte: ein Zeitzeuge in schriftlicher Form, der das damalige Leben in und um die weite Familie herum aus erster Hand wiedergibt. So begann meine Reise durch die Geschichte, die sich schnell von der Selbstfindung zur chronischen Detektivarbeit entwickelte. Doch die losen und teils sehr schwer leserlichen Blätter in dem auseinanderfallenden Ordner waren nicht die adäquate Form, diese Reise fortzusetzen. Immer schon sehr an Geschichte interessiert, war mein nächstes Ziel, die Worte meines Vorfahren zu bewahren, in digitaler Form. Die erste, und bei weitem nicht letzte Anschaffung des Projektes wurde getätigt: ein Scanner mit schnellem Serieneinzug – ein Stapel an Seiten hinein, hochauflösende Scans heraus. Auch wenn der Scanner mir das mühsame Einlegen einzelner Seiten ersparte, verbrachte ich trotzdem einige lange Abende mit dem Füttern des Geräts, anpassen von Scan-Einstellungen, digitalem Verbinden der einzelnen Dateien und einem gesunden Maß an Gefluche, wenn der Scanner erneut mehrere statt einer einzelnen Seite auf einmal einzog. Qualität der digitalen Reproduktion war mir wichtig, wodurch am Ende ein PDF mit über 380 Seiten und 2,5 Gigabyte Größe entstand. Auch wenn an diesem Punkt zumindest die Originalversion bewahrt war, war ich längst nicht zufrieden. Ich wollte in die Geschichte eintauchen, recherchieren und herausfinden, was mein Ururgroßvater seinerzeit erleben konnte.
Mein Ururgroßvater, Gustav Piffl. Seine Tochter Adolphine, von der Familie stets liebevoll „Omina“ genannt, war in meiner Kindheit noch eine präsente Person, die ich sehr schätzte. Noch heute habe ich sie als enorm resiliente Frau in Erinnerung, die in ihrem damaligen hohen Alter von 96, trotz beidseitiger Amputation beider Beine unterhalb der Knie und Schwierigkeiten mit der Sprache durch Schlaganfälle, noch für den einen oder anderen Spaß zu begeistern war. So konnte ich den ersten greifbaren Knoten knüpfen und meinen geistigen Stammbaum erweitern. Warum nicht gleich noch tiefer gehen? Warum nicht meine Erfahrungen mit anderen teilen? Vielleicht befinden sich andere Familienmitglieder in ähnlichen Situationen und wollen mehr über die Vergangenheit erfahren? Verbunden mit der Gelegenheit, als Grafiker ein gesamtes Buch zu gestalten, begann der lange Prozess, Gustavs Erinnerungen Wort für Wort zu transkribieren und in ein gebundenes Werk zu verarbeiten.
Anfangs dachte ich, ein paar Wochen lang gemütlich abends mit Lesen und Tippen beschäftigt zu sein. Wochen wurden zu Monaten und schlussendlich schreibe ich diesen Artikel ein gutes Jahr nach Beginn des Abenteuers. Das Abtippen selbst war an sich recht einfach – bei gutem Tempo konnte ich mehrere Seiten in einer Sitzung niederschreiben. Doch diese „leichten“ Seiten waren eher die Ausnahme. Die maschinengeschriebenen Seiten von Gustav variierten punkto Lesbarkeit drastisch. Abdrucke der noch nicht getrockneten Vorderseite, überschriebene Zeilen, doppelt und dreifach übertippte Worte, bis hin zu komplett unleserlichen Seiten durch Schäden der Zeit. Des Öfteren betrachtete ich einzelne Buchstaben durch einen Fadenzähler und verglich historische Schriftsätze mit den Zeichen vor mir, nur um ein einzelnes Wort zu entziffern. Wenn das nicht gelang, wanderte die gescannte Seite in Photoshop, um dort die einzelnen Helligkeitstöne des Toners unterscheiden zu können und lesbar zu machen. Manche Seiten wurden akribisch über Tage hinweg bis auf die Fasern des Papiers untersucht, keine Methode war hier zu aufwändig.
Auch wenn die niedergeschriebenen Informationen viel mehr vermittelten, als ich mir anfangs erhoffte, blieben manche Details verborgen. Wer war dieser erwähnte Doktor Fürth? Wie sah das beschriebene Haus am Franziskanerplatz 1 aus, oder das Schloss Rabenstein? Mit der inhaltlichen Aufarbeitung entstand so nun ein Recherche-Aspekt, der oft an jahrhunderteübergreifende Detektivarbeit erinnerte und einen substanziellen Teil der Bearbeitung bildete. Maßgeblich hilfreich waren hier die Archive der Österreichischen Nationalbibliothek, die über enorme Tiefen an Ressourcen verfügen. Einiges an geschichtlichem Bildmaterial, das die Worte von Gustav visuell unterstützt, konnte ich ebenfalls durch das Bildarchiv der ÖNB erwerben und so an einigen Stellen des Buches das Erzählte bildlich darstellen.
Natürlich ist auch zu erwähnen, dass die umfangreiche Bildsammlung der dynastiemautnermarkhof-Website einen großen Beitrag zu den bildlichen Anschauungen geleistet hat. Hier fand ich einige sehr wertvolle Bilder, die zusammen mit Scans von eigenen Familienalben, aufwändig über viele Stunden aufbereitet und retuschiert, ihren Platz neben den Erzählungen finden.
Die Arbeit an diesem Buch über das letzte Jahr hinweg hat es mir ermöglicht viel zu lernen – über die weite verzweigte Familie, über die Geschichte der damaligen Zeit, über Gebräuche und das Leben vor so vielen Jahren. Auch wenn heute mein geistiger Stammbaum noch nicht ganz gefüllt ist, liegt das weniger an einem Mangel an Informationen, sondern vielmehr an einem Überschuss derselben, für den ich dankbar bin.
Zum Buch
Alle Familienmitglieder, die Gustav Piffls Lebenserinnerungen auch in gedruckter Form bewahren möchten, können sie gerne bei mir bestellen.
Postkarten an Ilse von Reininghaus, Kriegsbeginn 1914
/in Reininghaus/Linie 1 /von Ulrike ReininghausLuise Piffl an Ilse v. Reininghaus, 1914
An alle Lieben denkt man in der Stunde,
die dem Ruf des Vaterlandes folgen müssen.
Es hat wohl deinen lieben Gustav auch schon getroffen!
Trotz aller Hoffnung auf baldige Beilegung, resp. Bezwingung,
ist der Abschied doch furchtbar.
Du und Tausende brauchten wohl ihre ganze Kraft!
Wir fühlen’s mit dir, liebste Ilse!
Wohin muss Gusti einrücken?
Der Unsrige ist schon „unten“. Gott schütze alle Beide!
Innigste Küsse!
Tante Luise
Liebe, liebe Ilse,
lass mich wieder etwas von deinem lieben Gusti,
Dir und Kinderln hören!
Der Unsrige an d. serb. Grenze, ist unb. ziemlich
wohl. Aber Hardy, Hardy! (Anm.: Eberhard, Sohn von Hugo v. Reininghaus)
Seit 20. August vermisst! Großmama darf’s nicht wissen.
Ärmster Hugo!
Innigste Grüsse
Tante Luise
Peter v. Reininghaus an Ilse v. Reininghaus, 1914
Besonders innig wünsche ich Dir zum heurigen Jahreswechsel
für die kommenden Zeiten Glück!
Handküsse
Peter
Nach relativ hindernisloser Fahre bin ich gut
in Wien angelangt, konnte jedoch Mama nicht
mehr treffen, da sie knapp vor meiner Ankunft
nach Graz abreiste.
Nochmal den innigsten Dank für die so reichlich
erwiesene Gastfreundschaft.
Herzliche Grüße an Gusti und Deine Eltern
Dir selbst Handküsse!
Peter
Hans v. Reininghaus an Ilse v. Reininghaus, 1914
Liebe Ilse!
Wir waren sehr erfreut, Gustav gestern hier zu sehen.
Er befindet sich übrigens in vollkommenem Irrtum.
Er wird laut „Widmungskarte“ uns zu „internem Dienst“
verwendet werden, wenn überhaupt.
Er ist darüber zwar empört; das hilft aber nichts,
doch sei ohne Sorge.
1000 Grüße und Küsse von Onkel Hans
(Anm.: Ironischer Text von „Onkel Hans“ – die Widmungskarte enthielt die militärischen Anordnungen über Pflichten im Kriegsfall. Gustav II. von Reininghaus hatte als Österreicher seinen Wohnsitz im Ersten Weltkrieg in Bayern/Deutschland.)
Grabanlagen der Familie von Reininghaus / Stadtfriedhof St. Peter, Graz
/in Reininghaus/Linie 1 /von Ulrike ReininghausDas Grabmonument der Familie von Reininghaus stellt die größte Gedenkstätte des Evangelischen Stadtfriedhofs St. Peter in Graz dar. Den Mittelpunkt der von Architekt Prof. Friedrich Sigmundt (1856 – 1917) gestalteten Anlage mit Wandelgang und Säulen bildet das Porträtrelief von Johann Peter von Reininghaus (*02.10.1818 – † 07.05.1901).
Die nur wenige Meter entfernte, wohl Jahrzehnte zuvor errichtete Grabkapelle „Familie Reininghaus“ im gotischen Stil mit Eckstrebepfeilern und Engelsstatuen versehen, war ursprünglich für die Familien beider Brüder aus Westfalen gedacht. Dort fanden zunächst der früh verstorbene Julius Reininghaus (*11.02.1823 – † 26.10.1862), Ehemann von Emilie Mautner Markhof (*17.04.1838 – † 28.03.1887), sowie der mit nur 32 Jahren verstorbene erste Sohn von Johann Peter und Therese von Reininghaus, Gustav I. (*25.05.1851 – † 27.05.1883), ihre letzte Ruhe.
Den Grund für die Errichtung eines zweiten Reininghaus-Grabdenkmals findet man in den Erinnerungen ihres Enkels Gustav Piffl (*04.08.1874 – † 10.10.1965), verfasst in den Jahren 1944/45, der Bezug auf den von Fritz Reininghaus (*14.06.1862 – † 28.07.1933) geführten langjährigen Rechtsstreit nahm: „Das monumentale Grabdenkmal wurde nach Onkel Hugos Angaben errichtet; gewiss ein Missgriff, weil dem schlichten, jedem äußerlichen Prunke abholden Charakter Großvaters so gar nicht entsprechend. Ein Vierteljahrhundert sollte er nun allein in der Gruft schlummern. Die alte Grabkapelle am dortigen Friedhofe, noch für beide Stämme Reininghaus bestimmt, wurde nach einer Vereinbarung infolge der unglückseligen Prozesse nicht mehr benützt.“ (S. 80, Familienerinnerungen – ein Einblick in eine vergangene Zeit. Die verbindende Geschichte der Familien Piffl, Mautner Markhof und Reininghaus. Erzählt von Gustav Piffl. Aufbereitet von Max Spechtler.)
Wenige Meter südwestlich befindet sich ein gotischer Kapellenbau mit Eckstrebepfeilern und Engelsstatuen, der neben weiteren Mitgliedern der Familie auch dem 1862 verstorbenen jüngeren Bruder Julius Reininghaus, Mitbegründer der Brauerei und Ehemann von Emilie Mautner Markhof gewidmet ist.
Peter Roseggers Briefe – von Krieglach über Graz nach München und zurück
/in Reininghaus/Linie 1 /von Ulrike Reininghaus2020, beim Sichten und Sortieren des Familiennachlasses in Mauern, fiel in einem der hintersten Winkel des Hauses, meinem Mann Abi und mir ein alter Umschlag in die Hände, auf dem kaum leserlich in der Handschrift meines Schwiegervaters Dieter v. Reininghaus „Rosegger“ mit Bleistift geschrieben stand. Abi und mir war bislang nur bekannt gewesen, dass die Beziehung zwischen seinem Ururgroßvater Johann Peter von Reininghaus (1818 – 1901) und dem 25 Jahre jüngeren österreichischen Schriftsteller Peter Rosegger (1843 – 1918) hauptsächlich auf Basis der finanziellen Zuwendungen durch den älteren Mäzen bestanden hatte. So wie es auch im Wikipedia-Eintrag über ihn steht: „Unterstützt wurde er von dem Industriellen Johann Peter Reininghaus, der in Graz-Reininghaus eine der größten Brauereien Österreichs betrieb.“ Dass den Großunternehmer und den „Waldbauernbub“ jedoch eine tiefe und sehr persönliche Freundschaft verbunden hatte, wurde uns erst beim Lesen des Inhalts nach dem doch ziemlich herausfordernden Transkribieren der Rosegger’schen Briefe klar.
In dem unscheinbaren Umschlag befanden sich neben sechs Briefen an Johann Peter von Reininghaus aus den Jahren 1888 bis 1897 auch noch ein Antwortbrief von diesem, dazu vier beschriebene Rosegger-Visitenkarten, eine Ausgabe der von ihm herausgegebenen Monatsschrift „Heimgarten“ und ein handgeschriebenes Gedicht. In dem Heimgarten-Heft von Oktober 1898 hatte er eine vierseitige Laudatio zum 80. Geburtstag seines „theuren Freundes“ Reininghaus abgedruckt, den er immer nur Peter oder Peterl nannte.
Außerdem befand sich im Haus auch noch der gerahmte Druck eines Porträts von Peter Rosegger, gemalt 1910 von Ferdinand Pamberger (1873 – 1956), unten mit der handschriftlichen Widmung des Schriftstellers versehen: „Der allverehrten Frau Therese von Reininghaus in treuer Anhänglichkeit und Dankbarkeit. Graz, am 4. Mai 1912, Peter Rosegger“.
Zum Glück hatten alle Schriftstücke ohne Stockflecke und Kellergeruch die vielen Jahrzehnte ihres Mauerblümchendaseins überstanden. Und wir freuten uns sehr, dass sie im Zusammenhang mit unseren vielen Informationen über die „Reininghaus/Linie 1“ auch auf dieser wunderbaren Webseite veröffentlicht wurden.
Danach beschlossen wir, alle Rosegger-Erinnerungen trotz des hohen ideellen Wertes nicht wieder in der Versenkung verschwinden zu lassen, sondern in die fachgerechte Obhut des Rosegger-Museums in Krieglach – das zum Universalmuseum Joanneum gehört – zu überführen. Der Kontakt zur Sammlungskuratorin Frau Mag. Bianca Russ-Panhofer verlief außerordentlich positiv und so planten wir hochmotiviert, im Frühjahr 2020 von München nach Krieglach zu fahren – nicht ahnend, dass uns Corona einen langen Strich durch die Rechnung machen würde …
Im August 2023 war es dann endlich soweit und wir wurden in der leicht verregneten Steiermark herzlich empfangen. Frau Russ-Panhofer gab uns eine ausführliche, hochinteressante Privatführung durch die Dauerausstellung „Wem gehört der Großglockner“ über Roseggers Leben und Schaffen und die Sonderausstellung „Wachsen hier die Dichter auf den Bäumen?“ über den Besuch der zahlreichen prominenten Freunde, Bekannte und Verehrer in dessen Sommerdomizil. Dort waren auch gleich die beiden Fotos der Ururgroßeltern platziert, die wir zur Ausstellungseröffnung im April 2023 dem Museum zur Verfügung gestellt hatten; sehr schön in einer Vitrine aufbereitet. In beiden Häusern ließen diverse Hinweise und Ausstellungsgegenstände die intensive Beziehung des Dichters mit der Reininghaus-Familie erkennen, darunter eine geschnitzte Truhe im Arbeitszimmer – ein Geschenk von Therese von Reininghaus zu seinem siebzigsten Geburtstag – die „Reininghaus“-Linde im Garten, die er seinem Freund „Peterl“ von Reininghaus gewidmet hatte, und die Unterschriften mehrerer Familienmitglieder – darunter mehrfach Johann/Hans und Virginia/Gina von Reininghaus – im virtuell einsehbaren Gästebuch. Nach dieser schönen Zeitreise und der offiziellen Übergabe inklusive Dokumentation unserer Rosegger-Erinnerungen für die Schenkungsurkunde, machten wir uns auf den Weg nach Graz, um uns dort noch weiter auf die historischen Spuren der Familie – u. a. die Reininghausgründe – zu begeben.
Ulrike/Rike und Albrecht/Abi Reininghaus in Roseggers Arbeitszimmer in Krieglach.
Mautner Markhof und die Österreichische Campagnereiter-Gesellschaft
/in Allgemein /von Theodor Heinrich Mautner Markhof1872 wurde sie als „Gesellschaft zur Prämierung guter Campagne-Reiter in Wien“ gegründet. Das Ziel dieser Gesellschaft war es, alljährlich eine stattliche Anzahl Offiziere der Cavalleriewaffe zu friedlichem Wettkampfe zu vereinigen und ihnen die Gelegenheit zu bieten Belohnung für ihre Leistung zu erlangen. Ab 1874 fanden diese Preisritte außschließlich in Wien-Freudenau statt. Ihre Schule war das 1878 ins Leben gerufene k. u. k. Militär-Reitlehrer-Institut, dessen Zweck die Ausbildung von Lehrern für die Brigade-Equidation und die Pflege eines möglichst gleichmäßigen und einheitlichen Reitens war.
Wie schon mein Vater, Manfred II. Mautner Markhof, der von 1967 bis zu seinem Tod 2008 Präsident der ÖCRG war, bin auch ich Mitglied der Österreichischen Campagnereiter-Gesellschaft und freue mich das Jubiläumsbuch vorstellen zu dürfen. Der reich bebilderte Band führt durch die wechselvolle Geschichte seit der Gründung 1872, in der Glanzzeit der österreichisch-ungarischen Kavallerie, über den Zusammenbruch des Habsburgerreiches und zwei Weltkriege hinweg, bis zur Neuorganisation des Reitsports 1962 mit der Gründung des „Bundesfachverband für Reiten und Fahren in Österreich“ (nunmehr Österreichischer Pferdesportverband) und ihren Aufbruch ins 21. Jahrhundert. 150 Jahre sind seit dem Gründungsjahr der Campagnereiter-Gesellschaft vergangen. Das Rad der Geschichte hat sich unaufhaltsam weiter gedreht – und der Campagnereiter-Gesellschaft ist es gelungen, trotz dramatischer Umbrüche und mehrmaliger Neuanfänge, immer mit der Zeit zu gehen: Von den Anfängen als hoch angesehene Offiziersgesellschaft im Großreich der Habsburgermonarchie zur Wegbereiterin des modernen Reitsports in der Republik Österreich, von der Campagnereiterei als Basis der Kavallerie bis zum breit aufgestellten Pferdesport der Gegenwart mit seinen vielseitigen Sparten von klassischer Dressur, über Westernreiten, Working-Equitation, Voltigieren oder Orientierungsreiten, bis hin zum wiederentdeckten Reiten im Damensattel. War das Pferd im 19. Jahrhundert noch ein allgegenwärtiges Arbeitstier, so ist es heute vorwiegend ein wertvoller Freizeit- und Sportpartner. Der Gründungsgedanke der Campagnereiter-Gesellschaft – gutes Reiten zum Wohle des Pferdes zu fördern – spannt den Bogen zur Gegenwart und zu einer Zukunft, in der das Pferd, der Reitsport und die damit einhergehende besondere Verbindung zwischen dem Menschen und diesen schönen und faszinierenden Tieren hoffentlich weiterhin von Bedeutung sein werden.
In der außerordentlichen Generalversammlung am 6. April 1967 im Palais Pallavicini wurde Manfred II. Mautner Markhof zum neuen Präsidenten gewählt und sollte ab diesem Zeitpunkt die Geschicke der Campagnereiter-Gesellschaft über vier Jahrzehnte hinweg lenken und sie ins digitale Zeitalter des neuen Jahrtausends führen. 1971 hatte er zusätzlich zur Präsidentschaft der Campagnereiter-Gesellschaft Wien auch die Präsidentschaft des Wiener Landesfachverbandes für Reiten und Fahren übernommen und 1987 auch die Leitung des entsprechenden Bundesfachverbands. Als in den 80er Jahren das Interesse des Publikums am Stadthallenturnier nachließ, nahm er sich der Sache an und ließ seine hervorragenden internationalen Kontakte spielen, um die Neuauflage des Turniers zu ermöglichen. Es bekam eine Rundumerneuerung, der Eventcharakter wurde verstärkt. Man wollte nicht nur das sowieso am Reitsport interessierte Fachpublikum ansprechen, sondern mit hochklassigen Showeinlagen zwischen den Bewerben auch den Unterhaltungswert für eine breitere Zuschauerschicht steigern. Die Mischung aus Spitzensport und Entertainment erwies sich als erfolgreich und so wurde das Wiener Stadthallenturnier unter seinem neuen Namen „Fest der Pferde“ bis 2009 wieder zu einem Fixtermin des nicht österreichischen Pferdesports.
MANFRED MAUTNER MARKHOF FONDS ZUR UNTERSTÜTZUNG HIPPOTHERAPEUTISCHER MAßNAHMEN FÜR KINDER
Im Gedenken an ihren langjährigen Präsidenten hat die Österreichische Campagnereiter-Gesellschaft 2008 den Fonds ins Leben gerufen. Die Idee dafür entstand im Zuge der Vorbereitungen für die Beerdigung des im Jänner 2008 Verstorbenen, dem karitatives Engagement zeitlebens ein großes Anliegen war. Die Geldsumme der Kranzspenden bildete die Grundlage. Der „Manfred Mautner Markhof Fonds“ dient der Förderung des therapeutischen Reitens für behinderte Kinder. Das therapeutische Reiten umfasst pädagogische, psychologische, rehabilitative und sozial-integrative Maßnahmen, das Pferd ist Partner und Helfer des zu Therapierenden. Im Fokus stehen körperliche, seelische und soziale Entwicklungsstörungen oder Behinderungen, die Entwicklungsförderung des Kindes steht dabei im Mittelpunkt. Gezielt werden Familien unterstützt, die sich eine derartige Therapie nicht leisten könnten, diese aber für ihr Kind dringen benötigen. Der Fonds fördert weder Vereine noch Institutionen, sondern ausschließlich einzelne Kinder, die Vergabe der Förderungen erfolgt nach genau definierten Auswahlkriterien.
Wissenswertes zur Campagnereiter-Gesellschaft
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmten nicht mehr die Kavallerie und die Landwirtschaft das öffentliche Bild des Nutztieres Pferd, es wurde auch als Bestandteil des Freizeitverhaltens zum Wirtschaftsfaktor. Zuerst vor allem, wenn es um Wettkämpfe ging, denn der Rennsport sorgte mit der Möglichkeit zu Wetten für zusätzliche Spannung. So entstand bald das Bedürfnis Reitern auch in anderen Disziplinen Wettkampfgelegenheiten anzubieten. Die Österreichische Campagenreiter-Gesellschaft wollte diese Lücke schließen – weg vom rein militärischen Zweck der Erziehung von Pferden hin zur sportlichen Entwicklung. Auch sollte neben Offizieren ebenfalls Zivilisten Gelegenheit geboten werden in Vergleichskämpfen ihr Können zu beweisen. Dominierten anfangs Offiziere das Geschehen, löste sich die Gesellschaft bald von dieser einseitigen Betrachtung; die Orientierung nach dem Begriff Campagnereiten brachte dies zum Ausdruck. Das Streifen durch die Natur auch hoch zu Pferd zu genießen gewann immer mehr an Anhängerschaft, sodass langfristig die Notwendigkeit entstand das Tier auch im Gelände zu gymnastizieren, damit es gesund und leistungsfähig bliebe. So entwickelte sich aus dem formlosen Spazierenreiten die Campagnereiterei. Die Österreichische Campagnereiter-Gesellschaft stellte von Anfang an das Wohl des Pferdes in den Mittelpunkt. Selbsthaltung, Takt, Frische und Ausdauer sind die Ziele sinnvollen Campagnereitens. Da war es dann auch zum Turniersport nicht mehr weit. Es wurden bald Regeln der Fairness aufgestellt und man organisierte die Wettbewerbe in allen Sparten des Reitens. Diese Rolle sollte die Gesellschaft fast 100 Jahre lang ausüben, bevor der Bundesfachverband für Reiten und Fahren (heute Österreichischer Pferdesportverband OEPS) diese Aufgabe übernahm. Seither ist die Österreichische Campagnereiter-Gesellschaft Wien eine gemeinnützige Serviceorganisation für alle Reiter, die nicht ortsgebunden organisiert sein wollen.
Wissenswertes zur Campagnereiterei
In Bezug auf ihre Kavallerie war die österreichisch-ungarische Armee eine Großmacht und ihre Militärreitinstitute und das System der Reitausbildung auch international höchst angesehen. Dies ist dem Umstand zu danken, dass in der Habsburgermonarchie, im Gegensatz zu den anderen europäischen Ländern, die Campagnereiterei die Hohe Schule nicht gänzlich ersetzte, sondern beide Schulen nebeneinander existierten. Als Maria Theresia 1752 die Wiener „Campagne-Reitschul“ gründet, wird die „K.K. Stadtreitschule“ (Spanische Hofreitschule) nicht aufgelöst, sondern beide Institute als „K.K Hofreitschulen“ parallel beibehalten. Die Symbiose beider Schulen, die gegenseitige Beeinflussung, die Nutzung der Synergien waren der Grund für die weiterhin hohe Qualität der Reiterei in der Donaumonarchie. Campagnereiterei – ein Hauch von Nostalgie und vielleicht auch Verwegenheit weht über diesem Wort. Doch zur Gründungszeit der Campagnereiter-Gesellschaft war sie Basis und Herzstück der „Abrichtung“ eines Pferdes für die „Gebrauchsreiterei“ und betraf vornehmlich die Ausbildung der Pferde für den Einsatz in der Kavallerie. Unter dem Stichwort „Reitkunst“ findet sich im Brockhaus von 1839 folgende Definition: Die letztere zerfällt noch in die sogenannte Schulreiterei, welche die kunstmäßige Ausführung einer Menge sehr schwieriger Gangarten, Wendungen, Sprünge und sogenannter Schulen von Pferd und Reiter vorzugsweise verlangt, und in die sogenannte Campagnereiterei, welche nur die zweckmäßige Übung der Reiter und Behandlung der Pferde für die Erfordernisse des Dienstes der Reiterei in sich schließt. Der Reiter muß zu diesem Zwecke gewandt auf- und absitzen können, sicher im Sattel sitzen und die Bewegung des Pferdes in jeder natürlichen Gangart nach allen Richtungen, das Übergehen aus einer in die andere, das plötzliche Anhalten auf der Stelle oder das sogenannte Pariren, sowie die Ausführung der beim Cavaleriedienst eingeführten Bewegungen in geschlossener und zerstreuter Ordnung so viel als möglich in seiner Gewalt haben. Noch im 17. Jahrhundert zählten die Figuren und Lektionen der Hohen Schule zum Repertoire des Offizierspferdes beim Einsatz im Feld. Die Campagnereiterei stellte die moderne Form der Kavallerie dar, der bis zum Ersten Weltkrieg „das Feld gehörte“ und bildete im 20. Jahrhundert, als die zunehmende Motorisierung den Einsatz von Reitertruppen obsolet machte, die Grundlage für alle Disziplinen des heutigen Reitsports.
Das Campagnepferd
Im Gegensatz zu den schwereren kompakten Pferden der Barockzeit, war das Ideal des modernen Kavalleriepferdes der leichte Warmbluttyp und für die höheren Offiziere, deren reiterliches Können über dem Durchschnitt lag, auch gerne mit hohem Vollblutanteil – sie konnten mit dem Temperament dieser eleganten, aber hochsensiblen Pferde umgehen und ein repräsentatives Bild abgeben – das Bild des berittenen Offiziers, wie wir es aus vielen Darstellungen des 19. Jahrhunderts kennen. Doch es sind auch die inneren Werte, die zählen: Friedrich von Krane beschreibt 1856 in seinem Buch „Die Dressur des Reitpferdes“ die Eigenschaften, die ein Campagnepferd ausmachen: Von ihm verlangt man die Fähigkeit unter bedeutendem Gewichte, bei jedem Wetter, bei mässigem Futter und mässiger Pflege andauernd in einer Haltung zu gehen, welche ihm jede Gangart, Wendung und Parade gestattet. Es soll sicher und furchtlos mässige Hindernisse nehmen und vertrauensvoll dahin gehen, wohin der Reiter es immer führen mag; dann aber auch fromm und verträglich gegen Menschen und Pferde sein. Gewandtheit ist ihm ebenso nöthig, wie Schnelligkeit und Dauer. Das Campagnepferd war also vor allem ein Allrounder, mit genaugenommen den Vorzügen, die wir uns heute auch von einem verlässlichen Freizeitpferd wünschen – ein solide ausgebildetes, rittiges und durchlässiges Pferd, das dem Menschen im Sattel vertraut und unkompliziert im Umgang ist. Für einen Reiteroffizier war das Pferd jedoch nicht nur „Beförderungsmittel“ oder „Sportgerät“, er stand in enger Verbindung zu seinem Tier, es war sein engster Kampfgefährte. Im Ernstfall konnte das Verhalten des Pferdes über Leben oder Tod seines Reiters entscheiden. Daran mag man die Bedeutung ermessen, die der erfolgreichen Ausbildung des Pferdes zukam.
Jubiläumsbuch 150 Jahre Östereichische Campagnereiter Gesellschaft
Österreichische Campagnereiter-Gesellschaft
Hofburg, Batthyanystiege, Mezzanin, 1010 Wien
Tel.: 01/ 533 70 46, E-mail: oecrg@reitenwien.at
Druckkostenbeitrag € 49,90, zuzüglich Versand
Hertha und Gustav Jäger – Frauenrechtlerin und Physiker
/in Carl Ferdinand Ritter Mautner von Markhof /von Beate HemmerleinFrauenrechtlerin der ersten Stunde
Hertha Anna Editha Mautner von Markhof (* Wien 23.11.1879, † Rodaun 8.7.1970) wurde als erstes Kind der zweiten Ehe von Carl Ferdinand mit Editha Sunstenau von Schützenthal geboren. Sie genoss eine exzellente Ausbildung und war begeisterte Pianistin sowie hervorragende Bergsteigerin. Bald trat sie in die Fußstapfen ihrer Mutter und engagierte sich ab 1902 für viele Frauenrecht und war im November 1903 Mitbegründerin des „Neuen Frauenklubs“, wo sie als Kassiererin in den Vorstand gewählt wurde. Dieser Klub wurde bald Mitglied des „Bundes österreichischer Frauenvereine“, der von Marianne Hainisch, der Mutter des späteren Bundespräsidenten der Ersten Republik, gegründet wurde und in dem nur bürgerlich-liberale, nicht aber die sozialdemokratische Vereine vertreten waren. Auch dort wurde sie 1918 in den Vorstand gewählt und blieb bis zu seiner zwischenzeitlichen Auflösung 1938 Vereinskassiererin. 1905 unterzeichnete Hertha Jäger einen in der „Neuen Freien Presse“ veröffentlichten Aufruf „An die Frauen Wiens“, der das Frauenwahlrecht forderte. Denn es hieß unter anderem: Ausgeschlossen davon (vom Wahlrecht) sollen in Hinkunft nur die Verbrecher, die Bettler, die notorisch Schwach- und Irrsinnigen und die Frauen sein. 1907 scheint Hertha Jäger unter den Gründungsmitgliedern des „Vereins zur Förderung höherer kommerzieller Frauenbildung“ auf, der für die Errichtung einer Handelsakademie für Frauen in der damaligen Stephaniestraße 16 (heute Hollandstraße) eintrat. Ziel dieser Akademie war es, Frauen durch fundierte Ausbildung bessere und damit höher dotierte Positionen im Arbeitsumfeld zu ermöglichen. Hertha Jäger bedauerte in ihren Publikationen wiederholt, dass der Grund für Frauenarmut vor allem der schwieriger Zugang zu Bildungseinrichtungen sei. Auch war sie Vorkämpferin des Schutzes junger Mütter und 1907 Mitbegründerin und kurzfristige Vizepräsidentin des „Österreichischen Bundes für Mutterschutz“, der gemäß seinen Statuten hilf- und schutzlose Mütter und ihre Kinder… vor wirtschaftlichen und sittlicher Verkümmerung bewahren und teils durch Gewährung von Unterstützungen, teils durch Errichtung von Heimstätten für junge Mütter und Kinder und von Zufluchtsstätten für arme Frauen und Mädchen, die ihrer Niederkunft entgegensehen, helfen sollte. 1913 nahm sie als eine der österreichischen Delegierten an der Internationalen Frauenstimmrechtskonferenz teil –es sollten jedoch noch weitere sechs Jahre bis zum allgemeinen Frauenwahlrecht vergehen. Erwähnenswert ist auch Herthas Artikel „Über die sexuelle Erziehung unserer Kinder“, der in der Zeitschrift „Frau und Mutter“ im Jahr 1918 erschien und viele aus heutiger Sicht überraschend fortschrittliche Erziehungsmethoden beschreibt. Das, was man heute als „Kindeswohl“ definiert, war ihr bereits damals ein Anliegen und als moderne Mutter wollte sie ihren Kindern möglichst viel Freiheiten gönnen.
Bekannt war auch Hertha Jägers Salon, in dem sich nicht nur Künstler und Avantgardisten (wie im Nebenhaus bei ihrer Schwester Dita und ihrem Mann Kolo Moser) trafen, sondern ebenso emanzipierte Frauen und deren Unterstützer. Ihre hohe soziale Kompetenz zeigte sich auch während des Ersten Weltkrieges, als sie sich in dieser schwierigen Zeit im Landstraßer Bezirksamt ehrenamtlich der Säuglings- und Kinderfürsorge annahm.
Sie durfte mit Gustav Jäger einen Partner wählen, der weder adelig noch zu diesem Zeitpunkt prominent war, so dass man davon ausgehen kann, dass es sich um eine Liebesheirat handelte. Hertha und Gustav heirateten 1898 und zogen 1902 in die neu errichtete „Villa Jäger“ auf der Landstraßer Hauptstraße 140 – 142, die zwei kleine barocke Häuser aus dem Jahr 1774 ersetzte, ein. Während für die Nachbargrundstücke Carl Ferdinand und nach dessen Tod 1896 seine Witwe Editha im Grundbuch standen, war Hertha sofort Eigentümerin der Immobilie, weil sie aus dem Erbe ihres Vaters errichtet wurde. 1917, durch Erlass der Niederösterreichischen Statthalterei, wurde der Familienname von Jäger in Jäger-Sunstenau festgelegt, um dadurch den Namen Sunstenau auch für die Nachkommen zu erhalten. Gustav und Hertha hatten sechs Kinder, wobei drei ihrer Söhne relativ jung verstarben. Die älteste Tochter Magda (1899 – 1942) ehelichte Heinrich Prelinger und war eine der ersten Frauen, die als Doktorin der Rechtswissenschaften an der Wiener Universität promovierte. Die bereits in der neuen Villa geborene Hilde (1903 – 1989) ehelichte 1924 den Literaturgelehrten und späteren Direktor der Museen der Stadt Wien, Franz Glück (Sohn Wolfgang Glück). Herthas Sohn Professor h. c. Hanns Jäger-Sunstenau (1911 – 2008) war weltweit anerkannter Genealoge und mit seiner Frau Hilda und den drei Kindern das letzte Familienmitglied, das die Villa bewohnte. Hertha selbst starb 1970 91jährig in Rodaun, wo sie über die Sommerferien hinweg untergebracht war.
Theoretischer Physiker
Gustav Jäger kam 1865 in Schönbach bei Asch in Böhmen (heute Krásná) zur Welt und studierte seit 1883 Physik und verwandte Naturwissenschaften sowie Mathematik an der Wiener Universität. Er habilitierte 1891 bei Ludwig Boltzmann als Assistent für theoretische Physik und wurde, als er Hertha kennenlernte, Extraordinarius und bald darauf Professor an der Technischen Hochschule. Im Studienjahr 1915/16 wurde ihm die Rektorenwürde übertragen, 1918 wurde er auch Ordinarius und 1920 Vorstand des Zweiten Physikalischen Instituts. Jäger beschäftigte sich unter anderem mit Boltzmanns kinetischer Gastheorie und deren Anwendungen, zum Beispiel für die Frage der inneren Reibung von komprimierten Gasen in langen Rohrleitungen in der Chemischen Industrie. Er befasste sich auch mit Raumakustik (Jäger-Sabine-Formeln bzw. Sabine-Frankel-Jäger Theorie, angewandt unter anderem für den Nachhall in Konzertsälen), Schallausbreitung und dem Strömungswiderstand von Körpern in Flüssigkeiten und Gasen, mit Lichtdruck, Stereoskopen und den chemischen Prozessen bei der Fotografie. 1903 widerlegte er einen Einwand des Physikers Hermann von Helmholtz gegen den Motorflug und trug damit dazu bei, diesen in den Augen der Physiker in den Bereich des Möglichen zu rücken. Er unterstützte auch, genauso wie sein Lehrer Boltzmann, den österreichischen Flugzeugpionier Wilhelm Kress. Diese blieb mangels ausreichender Finanzierung leider erfolglos. Er wurde zum Hofrat ernannt und war wirkliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften von Wien und Halle an der Saale sowie Mitglied der Deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und Künste in der Tschechoslowakei. Er starb 1938 in Wien, sodass Hertha ihn um 32 Jahre überlebte. 1962 wurde der Park neben dem Technischen Museum nach ihm benannt.
Rosa Rosà – Enkeltochter von Carl Ferdinand Ritter Mautner von Markhof
/in Carl Ferdinand Ritter Mautner von Markhof /von Beate HemmerleinCarl Ferdinands älteste Tochter, Harriet, heiratete Ernst Baron von Haynau, einen Nachkommen jenes berüchtigten k.u.k. Offiziers Julius von Haynau, der nach der Revolution 1848 alle Feinde der Monarchie gnadenlos bekämpft hatte und wegen seiner vielen Todesurteile in Ungarn heute noch als „persona non grata“ gilt. Ihre gemeinsame Tochter Edith (18.11.1884 – 1978, verehelichte Arnaldi) besuchte für zwei Jahre die Wiener Kunstschule für Frauen und Mädchen. 1908 heiratete sie den ebenfalls künstlerisch ambitionierten italienischen Juristen und Journalisten Ulrico Arnaldi, zog mit ihm nach Rom und bekam zwischen 1909 und 1915 vier Kinder.
Unter dem Pseudonym Rosa Rosà wurde Edith künstlerisch tätig und berühmt, ihre Werke wurden im New Yorker Guggenheim Museum gezeigt. Der italienische Künstler Filippo Tommaso Marinetti (1876 – 1944), Kopf der avantgardistischen Futuristen, nannte sie „la geniale Viennese“. Obwohl die Malerin, Schriftstellerin und Fotografin zu den großen Vergessenen der österreichischen Kunst- und Kulturgeschichte zählt, werden ihre Werke heutzutage immer wieder gewürdigt, wie z. B. auf der Biennale von Venedig.
Wolfgang Glück – fast ein Oscar für Mautner Markhof
/in Carl Ferdinand Ritter Mautner von Markhof /von Beate HemmerleinHilde Jäger und Franz Glück
Hilde Jäger-Sunstenau (*18.3.1903, † 25.7.1989), Tochter von Hertha und Gustav Jäger und Enkeltochter von Carl Ferdinand Ritter Mautner von Markhof, wurde knapp nach Erbau der Villa ihrer Eltern geboren und bewohnte sie bis zu ihrem Tod. Nach der Matura viel umworben, sollte sie ursprünglich den bekannten Nationalökonomen und späteren Nobelpreisträger Friedrich von Hayek ehelichen, entschied sich aber dann dazu den Literaturgelehrten, Kunsthistoriker, Schriftsteller und späteren Museumsdirektor Franz Glück 1924 zu heiraten. Ihm fühlte sie sich auch kulturell und politisch verbunden. Franz Glück begann in einem Verlagshaus zu arbeiten, bekam aber 1938 aufgrund seiner jüdischen Abstammung Berufsverbot erteilt. Offiziell sieben Jahre lang arbeitslos, arbeitete er inoffiziell für den Kunstbuchverlag weiter, übersetzte aus dem Italienischen und wurde unter der Hand bezahlt. Wie so viele war er nach der verrückten Nazi-Rassenlehre „zu wenig Jude, um eingesperrt zu werden, aber zu viel Jude, um so wie bisher weiterleben zu können“. Nach dem Krieg, ab 1949, leitete Hilde den Österreichischen Friedensrat und Franz, bis 1968, als Direktor das Historische Museum der Stadt Wien. So war er 1959 hauptverantwortlich für die Überführung dessen Bestände vom Rathaus ins neu erbaute Haupthaus am Karlsplatz. Seine Fachbibliothek gelangte an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar. Politisch unterschieden sich Franz und Hilde vom bürgerlich-konservativen Rest der Familie, indem sie sich der Ideologie der kommunistischen Partei verbunden fühlten. So herrschte neben den Animositäten der Schwägerinnen Hilde und Hildegard (Ehefrau ihres Bruders Hanns Jäger-Sunstenau) auch dadurch dicke Luft zwischen den beiden Familien, die das Familienanwesen auf der Landstraße gemeinsam bewohnten. Obwohl das Haus nur einen Eingang besitzt, war die „Trennlinie“ der Wohneinheiten so gezogen, dass man beim Betreten durch Teile der „Glück-Wohnung“ gehen musste. Auch im Garten hatte es einen gedachten Trennungsstrich gegeben, der keinesfalls überschritten werden durfte. Hilde und Franz hatten ein einziges Kind, ihren Sohn Wolfgang.
Wolfgang Glück – einer der bekanntesten Regisseure der Nachkriegszeit
Wolfgang (*25.9.1929, † 13.12.2023) wurde zu einem der erfolgreichsten österreichischen Regisseure der Nachkriegszeit. Als junger Mann erlebte er die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten und die Schwierigkeiten, die seine Familie wegen ihrer jüdischen Vergangenheit ausgesetzt waren. „Ich besuchte den evangelischen Religionsunterricht, und das gar nicht ungern. Umso merkwürdiger war es für mich als Kind zu erfahren, dass ich von Seiten der Familie her ‚jüdisch versippt‘ und somit ein Mensch zweiten Ranges war.“ Schon als 14Jähriger inszenierte er Amateuraufführungen für Studentenbühnen und träumte von einer Karriere als Mime: „Anfangs wollte ich selbstverständlich Schauspieler werden, aber im Reinhardt Seminar hat mir eine Kollegin gesagt, dass ich mit ‚dem Gesicht‘ für Liebhaber nie in Frage käme. Das war noch ein Tritt auf meinen Komplex. Ich kam nie mehr wieder zum Unterricht.“ Als Konsequenz wurde er Regisseur und arbeitete mit Kortner, Felsenstein und Ambesser zusammen. Er inszenierte an fast allen großen deutschsprachigen Bühnen, beginnend mit dem Burgtheater, den Bregenzer und Salzburger Festspielen und war auch gefragter Filmregisseur. Er arbeitete eng mit seinen Freunden Otto Schenk und Friedrich Torberg zusammen und verfilmte zwei von Torbergs Werken, den „Schüler Gerber“ und „Auch das war Wien“, das in der Emigration entstanden und 1984 posthum erschienen war. Seine eigenen Erlebnisse im Jahr 1938 machten es ihm zum Bedürfnis Torbergs Roman 1987 unter dem Titel „38 − auch das war Wien“ bzw. „38 – Heim ins Reich“ zu inszenieren, um die großen Probleme zu schildern, denen die jüdische Bevölkerung ausgesetzt war. Der Hauptdarsteller wurde als Wolfgangs Alter Ego identifiziert. Obwohl er den begehrten Academy Award letztendlich nicht gewinnen konnte, so war der Film doch beachtenswerter Weise in der Kategorie „Bester ausländischer Film“ für den Oscar nominiert worden und Wolfgang Glück wurde drei Jahre später für elf Jahre als ordentliches Mitglied in die „Academy of Motion Picture Art and Sciences“ aufgenommen, deren Angehörige für die jährlichen Oscar-Vergabe in Hollywood stimmberechtigt sind. Obwohl er einer der meistbeschäftigten Regisseure war, ist er immer bescheiden geblieben und hat sich selbst mehr als einen „Handwerker“ betrachtet. Privat war er in erster Ehe (1962 – 1967) mit Christiane Hörbiger verheiratet, die auch nach der Scheidung weiterhin hochachtungsvoll von ihm sprach und ihn dankbar für ihren Durchbruch im Theater- und Filmgeschäft verantwortlich machte. 1972 heiratete er Claudia Hahne, mit der er zwei Töchter und einen Sohn hat.